Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Wladimir Putin – eine Figur von Dostojewski?

Über den Zusammenhang der Dostojewski-Adaptionen von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater und „Dämonen“ am Wiener Burgtheater mit dem russischen Angriffskrieg

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Debatte Sprechtheater Bayern Österreich Dossier: Ukraine Burgtheater Wien Münchner Volkstheater

Das Ensemble von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater
Das Ensemble von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner VolkstheaterFoto: Matthias Horn

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Sollte man heute noch Fjodor Dostojewski lesen? Oder seine Romane für die Bühne adaptieren? Seit Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine werden regelmäßig Stimmen laut, die fordern, nicht nur mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland vorzugehen, sondern auch die gesamte Kultur und Literatur des Landes zu boykottieren. Die gegenwärtige Ablehnung alles Russischen, verbreitet vor allem unter Ukrainern, ist vor dem Hintergrund zahlloser Kriegsgräuel durchaus nachvollziehbar, mutet aber gleichwohl allzu pauschal an.

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko immerhin wurde etwas konkreter. Nach Bekanntwerden der russischen Kriegsverbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha beschrieb sie ihre Sicht auf Autoren wie Dostojewski oder Tolstoi. Die, so Sabuschko, würden den Menschen vor allem als Opfer gesellschaftlicher Zwänge zeigen, was zu einer Art Freifahrtschein für Gewalt und Grausamkeit führe: Wo die allgemeinen Umstände schuld sind, ist der Einzelne aus dem Schneider. Was Sabuschko damit nahelegt: Die Dostojewski-Lektüre entlastet Täter wie die von Butscha.

Für zusätzliche Skepsis sorgt, dass ausgerechnet Wladimir Putin Dostojewski-Fan ist. Zur Vorbereitung der Feierlichkeiten des zweihundertsten Geburtstags des Schriftstellers im November 2021 bestellte der russische Präsident bereits Jahre vorher persönlich das Festkomitee. Sollte man Dostojewski also Putin als nationalen Säulenheiligen überlassen und ihn tatsächlich aus dem Kanon der restlichen Welt streichen?

Die Vielstimmigkeit, die in Dostojewskis Romanen herrscht, spricht eindeutig dagegen. In den Menschen, die er auftreten lässt, treffen sehr unterschiedliche Weltbilder und Lebenskonzepte aufeinander. Und es ist keineswegs ausgemacht, mit welchen Figuren und Überzeugungen der Autor am meisten sympathisierte. So sehr sich Dostojewski persönlich zu einem russischen Imperialismus bekannt haben mag – sein Werk zeigt ihn als Zerrissenen. Davon zeugen auch zwei aktuelle Bühnenfassungen seiner Romane, in München und in Wien.

Am Volkstheater der bayerischen Landeshauptstadt hat sich Intendant Christian Stückl den Monumentalroman „Die Brüder Karamasow“ vorgeknöpft und dabei nicht den Fehler begangen, im Zeitraffer durch den kompletten 1.200-Seiten-Plot zu pflügen. Stückl hat radikal verdichtet, also sämtliche Nebenhandlungen ­inklusive der berühmten Legende vom Großinquisitor gestrichen. Er konzentriert sich auf den Kern des Romans, die Familienkonstellation um die drei Brüder Dimitri, Iwan und Aljoscha, und damit auf den – siehe oben – Zusammenprall widerstreitender Weltanschauungen, die sie verkörpern. Die zentrale Konfliktlinie, für die sich Stückl interessiert, verläuft zwischen Aljoscha, dem Klosternovizen, und Iwan, dem Agnostiker. Entsprechend ihren gegensätz­lichen Haltungen stehen sich mit Lorenz Hochhuth und Jakob Immervoll auch zwei konträre Temperamente gegenüber. Hochhuth spielt Aljoscha als besonnenen Vertreter eines nächstenliebenden russisch-orthodoxen Christentums, der geduldig alle zu verstehen versucht. Immervolls Iwan hält gereizt dagegen und gibt mit jedem genervten Blick, jeder abfälligen Geste zu verstehen, dass er den Glauben an Gott für den Ausdruck intellektueller Einfalt hält.

Komplettiert wird die Familienkonstellation durch Vater Fjodor Karamasow sowie dessen unehelichen Sohn Smerdjakow, der ihn töten wird, beeinflusst freilich von der aggressiven Autoritätsverachtung Iwans. Dass es hier (auch) um einen klassischen Generationenkonflikt geht, machen allein schon die Kostüme von Ausstatter Stefan Hageneier klar. Die drei Brüder kommen in kuttenartigen Jacken und Mänteln, schweren Stiefeln und Halsketten wie Mitglieder einer Rockband aus dem Moskauer Underground daher. Pascal Fligg als Vater Fjodor im schlabberigen altmodischen Anzug indessen sieht mit grauer Mähne und Rauschebart wie eine abgelebte Version des Gottvater persönlich aus.

Die Frage nach Gott

Nicht zufällig erzählt Dostojewski in den „Brüder Karamasow“ ja von einem Vatermord und der Abschaffung Gottes in einem. Über der Bühne, einer schwarz gewellten Plattform, leuchtet ein Rechteck aus Neonröhren. Kantiger Heiligenschein oder doch eher Rahmen um das schwarze Nichts eines leeren Himmels ­darüber? Das Publikum sitzt rings um die rechteckige Spielfläche und folgt dem Schlagabtausch der Argumente wie einem Boxkampf. „Wenn Gott nicht existiert, ist dann alles erlaubt?“ lautet die zentrale Streitfrage des Romans, an der sich Stückl, dieser katho­lisch geprägte Zweifler, abarbeitet, freilich ohne eine abschließende Antwort zu finden. Aber auch die vorläufige, auf die seine Inszenierung hinausläuft, hat es in sich. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Kein Gott ist auch keine Lösung. Es ist durchaus bemerkenswert, wie sich Stückl mit diesem Zweifel am aufgeklärten Zweifel aus der säkularen Deckung wagt, wird doch gerade mit Blick auf Russland derzeit mal wieder allzu deutlich, wohin das Gegenteil, also die Berufung auf Gott, führen kann. Der zwar bröckelnde, aber offenbar immer noch beträchtliche Rückhalt Wladimir Putins in der russischen Gesellschaft beruht ja unter anderem darauf, dass er eine unheilige Allianz mit der russisch-orthodoxen Kirche eingegangen ist. Patriarch Kyrill ist eine Art oberster Glaubenskrieger, der Putins Reden ebenso absegnet wie dessen Raketen. Gut möglich daher, dass Henry Kissinger, als er Putin einen „Charakter aus einem Dostojewski-Roman“ nannte, an Iwan Schatow dachte, eine Figur aus den „Dämonen“, die Johan ­Simons am Wiener Burgtheater für die Bühne adaptiert hat. Dieser Schatow predigt einen religiös aufgeladenen Nationalismus, der stark an die Großrussland-Fantasien des Herrschers im Kreml erinnert. Schatow ist eine von einer ganzen Reihe von Figuren des Romans, in denen Dostojewski einmal mehr den unterschiedlichen ideo­logischen Strömungen im vorrevolutionären Russland zur Zeit der Zarendämmerung Gestalt gab. Da wäre zum Beispiel noch der alternde Hauslehrer Stepan, Exponent eines euro­päisch geprägten Liberalismus und damit einer Generation, die die Leibeigenschaft abgeschafft und die Existenz Gottes in Zweifel gezogen hat. Ins dadurch entstandene Sinnvakuum stoßen andere vor. Unter anderen eben Schatow mit seinem reaktionären Vaterlandswahn. Oder aber Stepans Sohn Pjotr, in dem sich – frei nach dem Motto „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ – der in die entgegengesetzte Richtung deutende despotische Sozialismus ankündigt, dem die russische Revolution den Weg ebnen sollte.

Bühnenadaptionen

Im Zentrum des Romans aber – wie auch der Bühnenadaption von Johan Simons am Wiener Burgtheater – steht Nikolaj Stawrogin, der Verlorenste unter den Orientierungssuchenden, und doch der Klarsichtigste. Stawrogin scheint die Ideen der anderen alle schon einmal für sich durchdacht, aber dann verworfen zu haben. Das hat er seinen Mitmenschen voraus, es stürzt ihn aber zugleich auch ins Bodenlose, weil es für ihn kein sinnstiftendes Konzept mehr gibt, das Halt geben könnte. Nicholas Ofczarek, mit weißem Bart und grauer Mähne, spielt diesen Stawrogin bestechend als ebenso altersweisen wie lebensmüden Guru. Dazu hat er sich einen sehr speziellen Gang zugelegt, halb lässiges Schlendern, halb taumelndes Schlingern. Ein Fels von einem Mann. Ein erloschener Vulkan, in dem es gelegentlich noch rumort, der den erhitzten Ausbrüchen in seinem Umfeld aber distanziert gegenübersteht.

Johan Simons hat Dostojewskis Romanpersonal auf der weitläufigen Spielfläche des Burgtheaters ausgesetzt. Dort stehen eine Menge Stühle so unmotiviert verstreut herum (Bühne: Nadja Sofie Eller) wie die planlos in die Welt geworfenen Menschen, die hier versammelt sind. Simons ist kein Regisseur, der alte Stoffe mit aktuellen Anspielungen spickt, sondern eher einer, der sie durchlässig zu machen versucht für die Gegenwart, indem er alle Konzentration auf das Spiel des Ensembles und eine luzide Text­behandlung legt. Viel Aktion würde da eher ablenken. Und so wird hier – genauso wie in Stückls Karamasow-Bearbeitung am Münchner Volkstheater – vor allem geredet und wenig gehandelt. Selbiges übrigens vorwiegend von Männern. Die Frauen bleiben hier wie dort Begleiterscheinungen minderer Relevanz, und das obwohl zumindest in Wien Hochkaräterinnen wie Maria Happel und Birgit Minichmayr mit von der Partie sind. Dieses Defizit kommt, kaum überraschend, mehr noch als in den Romanvorlagen in den Bühnenversionen zum Tragen, wo Nebenfiguren im Prozess der Verschlankung noch stärker an den Rand gedrängt werden, als sie es eh schon sind. Aber auch die Originale sind natürlich nicht auf der Höhe heutiger Genderdebatten. Wenn man Vorbehalte gegen Dostojewski haben kann, dann also eher aus diesem Grund.

Fragwürdige Figuren

Was nun Simons’ Theater angeht, so ist es grundsätzlich meist nicht frei von Längen. Das ist diesmal nicht anders. Seine Inszenierung verlangt auch vom Publikum Konzentration. Wer die allerdings aufzubringen vermag, dem erhellt die Aufführung auch ohne vordergründige Aktualisierungen die Gegenwart, in der uns die „Ismen“, die schon Dostojewski beschrieb – derzeit vor allem gerade der Nationalismus –, heimsuchen wie Dämonen.

Wladimir Putin, dessen Name an diesem Abend natürlich nie fällt, der aber in seinen Reden zum Ukraine-Krieg aus den „Dämonen“ zitiert hat, dürfte sich in der Figur des Nationalisten Iwan Schatow durchaus selbst wiedererkennen – und sehr wahrscheinlich (und ganz im Gegensatz zu Kissinger) darin eine erfreuliche Analogie erkennen. Was diese eigenwillige Lesart freilich ausblendet, ist, dass Dostojewski Schatow als ebenso fragwürdige Figur wie alle anderen gezeichnet hat. Und so nimmt diese Wiener Aufführung Dostojewski gegen Putin durchaus in Schutz – indem sie klar vorführt: Die ideologische Vereinnahmung dieses Schriftstellers durch den russischen Präsidenten ist ziemlicher Humbug. Seine Verbannung aus dem Kanon wäre es daher ebenfalls.

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