Auftritt
Berlin: Das postheroische Heldentum
Schaubühne am Lehniner Platz: „Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ)“ (UA) Ein Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie. Regie Stas Zhyrkov, Bühne Jan Pappelbaum, Kostüme Dagmar Fabisch
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Berlin Theaterkritiken Stas Zhyrkov Jan Pappelbaum Pavlo Arie Schaubühne am Lehniner Platz

Der Abend beginnt mit A-cappella-Gesang. In der Intimität des Globe an der Schaubühne sitzen drei Schauspieler auf der Bühne, sie tragen unauffälliges Kostüm in Camouflage-Farben. Oleh Stefan erzählt seine eigene Geschichte. Der Schauspieler am Left Bank Theatre in Kyjiw, dessen Künstlerischer Leiter Stas Zhyrkov und der Chefdramaturg Pavlo Arie (in Deutschland keine Unbekannten, s. TdZ 1/19 und 12/21) an der Schaubühne gemeinsam das Projekt entwickelt haben, ist in der UdSSR geboren, wie er sagt. Er sagt das mit Stolz. Die Familie: Moldauer und Ukrainer. Das macht ihn zu was? Zu einem Russen? Zu einem Ukrainer? Damit ist die Frage des Abends auch schon auf dem Tisch. Wortwörtlich: Das Bühnenbild ist ein langer Tisch, auf dem in Signal-Orange Filmdosen liegen. Sie werden durch die Arbeit der Schauspieler mit Leichtigkeit zu Tamburin, Aktendeckel, Turntable. Die Schauspieler spielen mit Freude, die Theaterfamilie eint.
Dann erzählt Dmytro Oliinyk seine eigene Herkunftsgeschichte vom Aufwachsen auf der Krim anhand von Fotos, die auf der Leinwand hinter ihm laufen. Bis die Familienfotos Bildern der Zerstörung durch russische Angriffe weichen. Konsens ist: Krieg, das ist etwas, das weit weg ist, historisch oder geografisch, aber nicht hier, nicht jetzt, nicht bei uns. Der Krieg ist weg. Der Krieg wird kommen.
Dann bricht er ein. Auch in den Probenprozess, wie Holger Bülow berichtet. Videotelefonate mit Schauspielkollegen in der Ukraine, die ihren Theaterberuf hinter sich gelassen haben, eine Waffe in die Hand genommen haben und an die sogenannte Nulllinie gezogen sind, werden auf der Leinwand als dokumentarisches Material in eindringlicher Größe gezeigt. Videos, die Schauspieler, die, wie die Aufnahmen auch zeigen, gerade noch auf Theaterbühnen standen, an der Front gedreht haben. Was bringt den Künstler dazu, sich zu bewaffnen und zu kämpfen?
Mit verschiedenen theatralen, elegant gewählten und ausgespielten Elementen erzählt der Abend von dem Moment, in dem in Europa eine neue Zeitrechnung beginnt. Eine autobiografische Erzählung, nach vorn gesprochen, wechselt mit Dokumentarmaterial wie Telefonmitschnitten des ukrainischen Geheimdienstes von Gesprächen russischer Soldaten mit ihren Familien (sie erbitten die Erlaubnis zur Vergewaltigung von ihren Frauen, berichten vom Verzehr von Hundefleisch) und dem literarischen Tagebuch von Pavlo Arie, das er zu Beginn des Krieges geführt und auf die Proben mitgebracht hat. Die Geschichten und die Perspektiven ukrainischer Theaterkollegen werden teils gezeigt, teils erzählt, teils gespielt. Der 24. Februar teilt die Welt in ein Vorher und ein Nachher. Und er teilt die Welt in Gegner und Verbündete. Im Krieg ist keine Grauzone auszumachen.
Der zweisprachige Abend (Ukrainisch/Deutsch) liefert keine Antworten. Gewalt spricht bekanntlich nicht. Aber die Inszenierung verdeutlicht, macht sogar nachvollziehbar, wie sich der Einbruch des Krieges in das alltägliche und private Leben angefühlt haben könnte. Der einzige Ausweg: ukrainischer Humor. Durchaus bitter angesichts der Katastrophe, aber eine Möglichkeit, dem Trauma zu begegnen. Vor Aries Haus liegt eine Rakete, berichtet er. Er überlegt, sie mitzunehmen und unter seinem Bett aufzubewahren. Er ruft stattdessen die Polizei. Was die Arbeit befragt: Was tut ein Künstler angesichts des Einbruchs der Katastrophe? „Obs edler im Gemüt die Pfeil und Schleudern / Des wütenden Geschicks erdulden, oder / Sich waffnend gegen eine See von Plagen / Durch Widerstand sie enden?“ „Sterben, schlafen“, wie es bei „Hamlet“ weiter heißt, ist keine Option.
Aber: Der bürgerlichen Gesellschaft fehlt bekanntermaßen die Fallhöhe für die Tragödie. Jeder, der zur Waffe greift und die Ukraine in dem Krieg, der sie überhaupt als Nation eint, verteidigt, wird zum Helden. Damit wird niemand mehr zum Helden. Ausschließlich männliche Perspektiven werden erzählt, ohne die Frage beantworten zu können, ob in einem postheroischen Zeitalter Heroismus nur als medialer Effekt möglich ist oder der Krieg die bürgerliche Gesellschaft kollabieren lässt, wodurch der Regress in Vorstellungen von Nationalismus, Männlichkeit und Heldentum überhaupt wieder möglich wird.
„Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ)“ stellt einen Versuch dar, den Einbruch des Krieges, der unsagbaren Gewalt, in eine moderne, alltägliche und vereinzelte Gesellschaft Europas nachvollziehbar zu machen. Dabei erzählt er ausgewogen angesichts des Krieges im Theater über den Krieg und ist sich der Komplexität des Unterfangens und der theatralen Mittel dabei stets bewusst. //