Diskurs
Wir üben uns im Fragen stellen
Eindrücke von „Extend it! – Dezentrale Konferenz zum Jetzt und Morgen des Figurentheaters“
Die erste Konferenz der „Allianz internationaler Produktionszentren für Figurentheater“ – gegründet im Mai 2020 durch Schaubude Berlin, FITZ Stuttgart und Westflügel Leipzig – fand vom 3. bis 5. Dezember 2021 online statt. „Extend it!“ verstand sich als offener Experimentierraum, bei dem die Teilnehmenden in partizipativen Formaten über Figurentheater und Produktionshäuser der Zukunft ins Gespräch kamen.
von Annika Gloystein
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Sachsen Debatte Baden-Württemberg Berlin Puppen-, Figuren- & Objekttheater Lindenfels Westflügel FITZ! Zentrum für Figurentheater Schaubude Berlin
Extend it! – der auffordernde Titel der Konferenz zeigte sich in mehrfacher Hinsicht: Netzwerke und Potenziale ausbauen, Gespräche fortsetzen, den Personenkreis ausweiten, Wissen vergrößern, Kenntnisse und Horizonte erweitern, sich virtuell ausdehnen, sich über ein Wochenende erstrecken …
Die Konferenz bildete den Abschluss für das Projektjahr „Extend – Offensive für Weiterbildung, Vernetzung und Stärkung des Figurentheaters“, in dem sich die Produktionshäuser in einen engen Austausch über aktuelle Herausforderungen des Genres begeben hatten und dessen Arbeitsstand nun im Rahmen von Extend it! mit einer außerinstitutionellen Öffentlichkeit diskutiert werden sollte. Geplant war ursprünglich eine Mischung aus Präsenz- und Onlineveranstaltungen in den drei beteiligten Allianz-Städten Stuttgart, Berlin und Leipzig; aufgrund der pandemischen Situation wurde die Konferenz jedoch ausschließlich online durchgeführt. Dadurch noch dezentraler, erstreckte sie sich nun gleichzeitig über mehr als vierzig Bildschirme – im Wohnzimmer in Leipzig, am Schreibtisch in Stuttgart, im Arbeitszimmer in Berlin oder am Küchentisch in Erlangen … Die Plattformen Zoom und Gather Town bildeten dabei die digitalen Räumlichkeiten des Zusammenkommens. Veranstalter*innen, Spieler*innen, Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Dozierende, Studierende und andere Interessierte des Genres trafen höchst motiviert aufeinander: Trotz allgemeiner Online-Müdigkeit und der Sehnsucht nach Begegnungen in Präsenz überwog der „Hauptsache keine Absage“-Trotz und vor allem die Neugier am Thema.
Straffer Zeitplan
Das Programm war reichhaltig, ging es doch laut Konferenz-Untertitel um nichts Geringeres als das „Jetzt und Morgen des Figurentheaters“. Es wurde über Transformationsprozesse im freien Theater, über Arbeits- und Produktionsbedingungen nachgedacht, theatrale Potenziale digitaler Tools wurden ausgelotet, Produktionshäuser der Zukunft imaginiert sowie die Lage von Kultur- und insbesondere Theaterjournalismus diskutiert.
Nach einem zwanglosen ersten Aufeinandertreffen beim Format „Zocken & Chatten“ am Freitag zu später Stunde, bei der Spieler*innen – Matthias Ludwig, Iris Meinhardt, Annette Scheibler, Franz Schrörs, Anna Wagner-Fregin, Daniel Wagner und Stefan Wenzel – von ihren Arbeitsweisen erzählten, während man gemeinsam Onlinespiele bestritt, lud der Samstag beim Schreibworkshop „Nächste Station: Dogma“ und der Diskussionsrunde „Standortbestimmung: Figurentheater“ dazu ein, die eigene Auffassung zum Gegenstand zu erproben, zu formulieren und darüber in Austausch zu treten. Alle Anwesenden waren mit ihrer Expertise gefragt, sich über eine Definition von Figurentheater auf inhaltlicher, struktureller und ästhetischer Ebene auseinanderzusetzen.
Eine der ersten Aufgaben der Konferenz, zum Nachlesen im Zoom-Chat festgehalten: „Zweiergruppen. Die ersten 5 Minuten spricht nur eine Person und die andere hört zu. Dann wird gewechselt. Was ist für Euch Figurentheater? Was gehört unbedingt dazu? Was keinesfalls? Welche Erfahrungen haben Euer Verständnis von Figurentheater geprägt? Die übrigen 15 Minuten dienen dazu, ein bis drei Schlagworte für ein Manifest zum Thema Figurentheater zu finden. Was sollte ein Manifest fürs Figurentheater fordern? Welchen Dogmen sollte Figurentheater folgen? Was ist der Kern von Figurentheater? Was kann es besonders gut? Seid subjektiv, streitbar und provokant!“
Ein spannender Versuch, von der persönlichen Erfahrung her auf universelle Verlautbarungen zu kommen. Beim Teilen von Erlebnissen und Bildschirm zeigte sich die Besonderheit im Zusammentreffen: (Zufalls)begegnungen, die Veranstaltungen in Präsenz bereichern, erzeugten die Konferenz-Macher*innen mithilfe der digitalen Möglichkeiten künstlich. Sie teilten die Gruppe immer wieder in kleinere Teams auf; zurück im Hauptraum fasste dann aus jeder Runde eine Person das Diskutierte zusammen. Mithilfe einer digitalen Pinnwand wurden die Gedanken festgehalten: ein Ort, an dem um Formulierungen gerungen wurde, an dem auch Widersprüchliches nebeneinanderstehen konnte, Aussagen in Beziehung gesetzt und auf den Prüfstand gestellt wurden.
Spannende Denkanstöße lieferten kurze Video-Inputs von Laurette Burgholzer zum Schreibworkshop „Nächste Station: Dogma“ sowie von Jonas Zipf, Anne Bonfert und Melanie Florschütz zur sonntäglichen Diskussionsrunde „Produktionshäuser der Zukunft“. Unmittelbar danach waren alle beim „Chatgewitter“ dazu aufgerufen, die Essenz des eben Gehörten mit Schlagworten zu verschriftlichen. Liefen die digitalen Pausen der Konferenz auch ohne einen Austausch beim Kaffee ab, so konnte man zumindest in Ruhe durch das Stimmengewirr im Chat scrollen.
Die Diskussionsrunde „Future? Unwritten“ mit den Gästen Esther Boldt, Peter Korfmacher, Dorothea Marcus, Matthias Schiffner, Karin Bjerregaard Schlüter in der Moderation von Elena Philipp fiel etwas aus dem Rahmen: konzeptionell – die Teilnehmenden waren eher Zuhörende – und inhaltlich – die Expert*innenrunde lieferte sich eine hitzige Debatte zum Zustand des Theaterjournalismus; Figurentheater war hier eher eine Randerscheinung.
Vielstimmigkeit als Chance
Ein kollektives Dogma wurde an diesem Wochenende nicht formuliert. Abgesehen vom zeitlichen Aspekt hätte dies dem Charakter der Konferenz auch nicht entsprochen, verstand sie sich doch als ein Labor des gemeinsamen Nachdenkens, des Fragenstellens. Das Interesse der Teilnehmenden, sich über verschiedene Auffassungen von Figurentheater sowie über ästhetische Konzepte und Praktiken auszutauschen, war groß. Auf der Homepage der Allianz ist die Dokumentation der Konferenz mit den Ergebnissen und Videoinputs zu finden. Die ausführlichen Informationen vermitteln einen Einblick in dieses intensive Wochenende und laden gleichzeitig ein, sich mit den unterschiedlichen Thematiken (weiter) zu beschäftigen: seine eigenen figurentheatralen Dogmen zu befragen,
Besprochenes in den individuellen Berufsalltag zu übersetzen, Strukturen zu hinterfragen und Visionen für die Zukunft zu imaginieren. Möge sich das Nachdenken über das Figurentheater des Jetzt und Morgen über die Bildschirme hinaus produktiv fortsetzen!
www.allianz-figurentheater.de/projekte/extend-it/extend-it-dokumentation/