Thema: Martin Linzer Theaterpreis
Kristallisationspunkte des Künstlerischen
Was macht das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble so besonders? Der Intendant Johan Simons mit den beiden Schauspielstars Sandra Hüller und Jens Harzer im Gespräch mit Martin Krumbholz
von Martin Krumbholz, Johan Simons, Sandra Hüller und Jens Harzer
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Akteure Schauspielhaus Bochum
Sandra Hüller, Sie sind bei sich zu Hause in Leipzig. Wie hat man sich den Alltag einer Schauspielerin vorzustellen, die aufgrund der Coronakrise nicht auftreten darf?
Sandra Hüller: Es gibt genug zu tun. Ich unterrichte zusammen mit meinem Mann meine Tochter, auch andere Kinder im Haus, wir haben einen strukturierten Tagesablauf, sodass wir nicht abstürzen und unsere Körper nicht verfallen. Ich habe noch keinen einzigen Tag herumgelegen.
Nur mit Theater hat das eher wenig zu tun?
Hüller: Es gibt auch Aufgaben für das Online-Programm des Bochumer Schauspielhauses. Wir hatten gerade eine Ensembleversammlung, wo wir besprochen haben, dass wir uns der Hintanstellung der Kultur jedenfalls nicht kampflos ergeben. Es war eine sehr kämpferische Versammlung.
Jens Harzer, wie ist das bei Ihnen?
Johan Simons: Ich weiß nicht, ob er uns hört. (Pause.) Der hört uns nicht.
Jens Harzer: Jetzt hör ich euch! Mein GOTT!
Sie sind zu Hause in Hamburg. Wie sieht der Alltag eines Schauspielers aus, der nicht auftreten darf?
Harzer: Man tritt einfach nicht auf. (Sandra Hüller lacht.) Ich probiere eigentlich seit fünf Wochen mit Leander Haußmann den „Geizigen“, ab und zu trifft man sich über Zoom, wie das jetzt eben getan wird, ansonsten lerne ich Text und tue so, als würde ich bald auftreten. Ich weiß gar nicht, ob es etwas mit mir macht, wenn ich nicht auftrete. Irgendwie schiebe ich es von mir weg.
Johan Simons, wo sind Sie jetzt?
Simons: Ich bin jetzt in Holland, fahre morgen nach Bochum, werde auf Corona getestet, erfahre 24 Stunden später das Ergebnis. Dann kann ich frei herumlaufen, mit 1,50 Metern Abstand.
Wie hat man sich das Bochumer Schauspielhaus im Standby-Modus vorzustellen? Sitzen da lauter Schneider, die Schutzmasken nähen, während die Dramaturgen zu Hause an Spielplänen basteln?
Simons: Ja, das Kostümatelier macht wunderschöne Mund-Nase-Masken, und die Dramaturgen basteln an einem Programm, von dem wir nicht wissen, wie und wann es stattfinden soll. Wir hoffen, dass wir so bald wie möglich wieder probieren und spielen können. 1,50 Meter Abstand, ich bin gespannt, was dann fehlen wird, wenn man sich nicht anfassen kann. Was da fehlt, wird man ja auch im Saal ständig spüren. Da sitzt man auch 1,50 Meter voneinander entfernt. Und dafür sind viele Überlegungen nötig, für die ich nicht allein verantwortlich sein kann. Wie läuft es weiter mit „Hamlet“ und „Iwanow“, wenn wir diese Stücke wieder aufnehmen: Müssen alle Schauspieler coronafrei getestet sein, was für Verabredungen müssen getroffen werden? Das Theater muss ganz neu denken!
Nehmen Sie als exponierte Schauspieler eigentlich Einfluss auf den Spielplan? Würden Sie, Frau Hüller, zum Beispiel sagen, ich würde gerne mal Hamlet spielen?
Hüller: Bei „Penthesilea“ war es so, dass Johan Simons mich gefragt hat, was ich gerne mal bearbeiten würde. Das war schon dieses Stück. Aber das war das einzige Mal, richtig, Johan? Sonst war ich immer gespannt darauf, was andere für Ideen hatten. Ich dachte immer, das wird schon passen.
Harzer: Ich glaube, man sollte sich als Schauspieler so wenig wie möglich wünschen.
Hüller: Oft ist es besser, wenn es auf den ersten Blick nicht passt. Wenn es nicht zu bequem ist.
Würden denn Sie, Herr Harzer, gern mal eine zentrale weibliche Rolle spielen? Phädra?
Harzer: Na ja, ich bin mit Achill ja auf dem besten Weg, der ist ja ein halbes Mädchen. Und wie man an meinen langen Haaren sieht … Nein, eigentlich kann ich dazu nichts sagen.
Sie haben sich die Frage noch gar nicht gestellt?
Harzer: Das wäre ja unverschämt, wenn man auch noch das Käthchen von Heilbronn spielen wollte. Aber sagen wir es doch so: Je mehr weibliche Anteile eine männliche Figur hat, desto besser.
Frau Hüller, Sie haben im Programmheft erklärt, Sie wollten Hamlet etwas von seinem Zynismus nehmen. Hat sich dieser Vorsatz bei den Proben bestätigen lassen?
Hüller: Ehrlich gesagt ist uns der Zynismus kaum aufgefallen, weil die Fassung so klar und liebend war. Ich fand diese Seite der Figur nicht so interessant, und da haben wir eben etwas anderes gesucht.
Und gefunden?
Hüller: Och, vielleicht.
Dagegen hat man bei „Iwanow“, Herr Harzer, nicht unbedingt den Eindruck, Sie gäben sich Mühe, die Figur von ihrem Zynismus zu befreien, oder?
Harzer: Was für eine Frage. (Pause.) Ich glaube, dass unsere Lesart der Figur keine zynische ist. Man könnte die Figur sicher pathologischer spielen, oder mehr abgekapselt in sich … Passt Zynismus zu Tschechow? Ich glaube nicht. Peter Handke würde von inniger Ironie sprechen. Verloren eher oder entscheidungsschwach und daher auch verletzend und taumelnd.
Simons: Ist Zynismus vielleicht auch eine Rettung? Zwar eine egoistische … Und diese Rettung ist nicht Iwánow vorbehalten. Oder Íwanow. Ich sage das ständig falsch jetzt …
Harzer: Ich finde, dass die Aufführung mit Zynismus wenig zu tun hat.
Simons: Warum fragen Sie eigentlich danach?
Er behandelt seine todkranke Frau recht grob, geht zu seiner Geliebten …
Harzer: Wenn Sie das meinen, das ist ja die Geschichte. Die kann man nicht besser oder schlechter machen. So gesehen sind alle Tschechow-Figuren Egoisten, selbst in den wärmsten Stücken, selbst in „Onkel Wanja“. Man kann die Figuren sehr ichbezogen lesen, klar, aber das ist dann noch nicht mal die Hälfte der Wahrheit.
Gerade in der radikal reduzierten Form ist „Penthesilea“ gewissermaßen Literaturtheater par excellence. Wenn dieser Begriff heute in einem abschätzigen Sinn gebraucht wird, was denken Sie?
Hüller: So habe ich das noch nie gehört.
Harzer: Das sind so Begriffe von euch Journalisten … Na gut, meinetwegen, also ich habe eigentlich noch nie etwas anderes gemacht als Theater mit Literatur und Texten.
Simons: Ich bin, glaube ich, 2003 nach Deutschland gekommen, und ich habe immer die Sprachgewalt der deutschen Literatur bewundert. „Penthesilea“ ist vielleicht das schwierigste Stück, das ich kenne. Wie die beiden das spielen, das ist Musik in meinen Ohren. Ich spreche einfach schlecht Deutsch, aber ich höre, dass die beiden fantastisch miteinander Musik machen, das ist modernstes Musiktheater, könnte man fast sagen. Nicht Literaturtheater.
Die Figuren in „Penthesilea“ sind in einem leidenschaftlichen Konflikt zwischen Stolz und Begehren. Lassen sich diese Tendenzen spielerisch in Einklang bringen?
Hüller: Die widersprechen sich natürlich total.
Harzer: Was waren noch mal die Begriffe? Stolz und …
Hüller: Begehren. Ich glaube, es ist ein bisschen mehr als Stolz. Herkunft. In den Genen der beiden sind ja verschiedenste Dinge angelegt. Stolz hört sich so an, als könnte man das mit einem Fingerschnipsen überwinden, so einfach ist das nicht. Kann man stolz begehren? Kann man begehrlich stolz sein? Das geht nicht zusammen. Das kann man bei Kleist nicht verbinden. Die Zeit war noch nicht reif für so eine radikale Verbindung. Wenn man die Schleife weiterdreht, kommt man vielleicht eines Tages zu einem Punkt, wo es möglich wird.
Harzer: Der große Kleist wäre nicht der große Kleist, wenn er nicht die Menschen in diese unauflösbaren Paradoxien stürzen würde. Auch die kleinsten Figuren sind auf dem Weg, sich aus ihren Bindungen zu lösen. Das ist dann von irgendeinem Punkt an nicht mehr zu erklären.
Herr Simons, setzen Sie sich selbst Quoten, wenn Sie ein Ensemble zusammenstellen? Fünfzig Prozent müssen Migrationshintergrund haben, zwanzig Prozent von der Ernst-Busch-Hochschule kommen, zwei bis drei regelmäßig im Fernsehen zu sehen sein …
Simons: Nein. Es ist intuitiv, ist auch ein Bauchgefühl. Wenn man in Bochum über die Straße geht, sieht man die unterschiedlichsten Hautfarben, hört die unterschiedlichsten Sprachen, und dem sollte unser Ensemble entsprechen. Gina Haller zum Beispiel, die in „Hamlet“ Ophelia und Horatio spielt und in „Iwanow“ die Sascha, wenn man sie und ihre Hautfarbe sieht, könnte man vielleicht denken: Die hat doch nichts mit diesem Polonius zu tun, aber das ist das Gute an Theater: Es kann, darf und muss eine Behauptung sein.
Herr Harzer, Bruno Ganz hat Ihnen vor einem Jahr den Iffland-Ring vermacht. Bedeutet das für Sie, dass Sie den Rest Ihres Lebens aufpassen müssen, wer Ihr Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin wird?
Harzer: Das mit dem Preis kann man auch langsam mal weglassen. Es ist ja keine Lebensaufgabe, diesen Ring zu tragen. Das war vielleicht bei Werner Krauß so. Die Zeiten haben sich doch im besten Sinne demokratisiert, auch in den Künsten. Was nicht heißen soll, dass es nicht Spitzenkräfte gibt. Ich muss nur aufpassen, auf gute Leute zu treffen. Wie wir alle übrigens.
Die Entscheidung wird sich also spontan ergeben?
Harzer: Ach, da bin ich doch schon längst durch: Drei Monate nach der Verleihung musste ich das in Wien hinterlegen. Aber kann ich noch was anderes sagen? Dieser Preis (der Martin Linzer Theaterpreis; Anm. d. Red.) ist doch für das Bochumer Ensemble, nicht? Jetzt sitzen hier Sandra Hüller und ich, aber eigentlich müssten hier alle anderen sitzen, das ist hoffentlich ganz klar. Sonst ist das ja fast fahrlässig. Der Suchprozess, den Johan vor drei Jahren angestoßen hat, beinhaltete frühzeitig den Wunsch, auch Sandra und mich an Bord zu haben, in welcher Form auch immer. Nur sind wir im Gegensatz zu anderen aufgrund verschiedener Umstände eben nicht ganz nach Bochum gegangen. Der Kristallisationspunkt des Bochumer Schauspielhauses ist aber doch die Künstlerpersönlichkeit von Johan Simons. In einer Zeit, da viele Intendanten eher Dramaturgen oder was weiß ich sind, ist das der entscheidende Unterschied: Die Subjektivität einer künstlerischen Leitung ist doch das, was einen dazu bringt, an so ein Haus zu gehen. Nicht die Kompatibilität mit dem, was sonst alle machen. Ich finde, darin liegt der schöne Erfolg für das Bochumer Theater. //
Das Gespräch wurde Ende April als Videokonferenz geführt.