Auftritt
Zürich: Wundersamer Zusammenklang
Sogar Theater: „Extensions“ von Anna Papst. Inszenierung Philip Bartels, Komposition Julie Herndon, Kostüme Nina Sophie Wechsler
von Elisabeth Feller
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Freie Szene Performance Musiktheater Schweiz

Zwei Frauen holen eine Tuba vom Bühnenhimmel runter. Bloß keine Eile, denkt man, wenn man der langsamen, offenkundig auf größte Sorgfalt zielenden Aktion zusieht. Wer sich schon in der Ruhepause eingenistet hat, wird jäh aus dieser herausgerissen, denn die Schauspielerin Chantal Le Moign wendet sich ans Publikum: „Sie sind auch ein Cyborg. Sie wissen es nur noch nicht.“ Bin ich das, fragt sich die Zuschauerin, wobei sie diese ersten, im Stück „Extensions“ fallenden Sätze aber nicht so sehr überraschen, denkt sie doch an den gehörlosen Philosophen Enno Park. Dieser erscheint im Stück „Extensions“ (Erweiterungen) von Anna Papst zwar nicht leibhaftig, ist aber gleichwohl allgegenwärtig: Park bezeichnet sich selbst als Cyborg.
In jedermanns Wortschatz verankert dürfte dieser Begriff nicht sein, deshalb: Cyborg wurde in den 60er-Jahren von NASAWissenschaftlern erfunden. Sie fragten sich, wie man den menschlichen Körper umbauen müsste, damit er im Weltraum überleben kann. Seither hat sich die Vision eines Mensch- Maschinen-Mischwesens weiterentwickelt und ist teilweise Realität geworden. Beispiel Enno Park. Er trägt seit Langem eine implantierte Hörhilfe – ein sogenanntes Cochlea-Implantat. In Interviews mit der Schweizer Autorin Anna Papst erklärt er aus Technik-philosophischer Sicht, wie wir Menschen dazu neigen, uns eine Umwelt zu bauen, die für uns bequem ist. Im Gegensatz dazu verweist die Cyborg-Idee aber auf den Gedanken, den Menschen so umzubauen, dass er in seiner Umwelt besser existieren kann. Zusammenfassend hört sich das in den Worten Parks so an: „Wir können die Probleme, die wir selber geschaffen haben, ohne Technik nicht lösen. Wir Menschen wüssten gar nicht, wie, weil wir immer alles mit Technik gelöst haben. Eigentlich können wir nichts anderes.“
Ist Enno Park demnach ein Technik-Freak? So verkürzt kann man das nicht sehen. Dazu sind der deutsche Philosoph und die Schweizer Autorin zu sensible, Zusammenhänge aufspürende und aus diesen überraschende Schlüsse ziehende Menschen. Anna Papst hat aus den Gesprächen mit Park ein fein gewobenes, Nachdenkliches und Humorvolles klug mischendes Stück geschrieben, in dem Bewegungen, Gesten, Geräusche und verfremdete Musik gleichwertige Rollen spielen. Wenn dann noch, wie wenige Male, die Aufführung simultan in Gebärdensprache übersetzt wird, wird das von Philip Bartels inszenierte „Musiktheater zur Erweiterung des menschlichen Körpers“ vollends spannend. Immer wieder richtet man den Blick auf die am Bühnenrand positionierte Übersetzerin, deren virtuoses Hände- und Fingerspiel packende Beredtheit ausdrückt. Eine solche, wenngleich völlig anders geartete, zeichnet auch die Performerin Lua Leirner, den Schauspieler Jonas Gygax und die Schauspielerin Chantal Le Moign; die Pianistin Simone Keller und den Tubaspieler Marc Unternährer aus.
Da schildert Gygax in der Rolle Parks, wie er zunächst mit seinem Cochlea-Implantat kämpft: Es rauscht, knirscht, saust, braust, brummt und dröhnt in seinen Ohren, wenn er das erste Mal Schallplatten hört. Verblüffend, dass sich sein Implantat später in einer übervollen Kneipe als Richtmikrofon entpuppt, mit dem intime Gespräche an entfernten Tischen belauscht werden können. Was geht im Innern eines Gehörlosen vor? Dem versucht die Komponistin Julie Herndon, mit Klängen und Geräuschen auf die Spur zu kommen. Weil Ungewohntes Programm ist in „Extensions“, kann, aber muss die Tuba nicht zwingend auf der Bühne sein: Man kann sie auch – mittels eines überlangen Schlauchs – von einem anderen Raum spielen. Oder: Die Pianistin erzeugt seltsamerweise an Draht erinnernde Geräusche am und im Klavier; Simone Keller erweitert aber auch die menschliche Stimme elektronisch, indem sie mit einem Keyboard Chantal Le Moigns Stimme live verändert. So ergeben die vielen, sogenannt Normales negierenden Komponenten einen Zusammenklang, der sich facettenreich entfaltet. Wieder einmal zeigt das kleine sogar theater, wie groß es sein kann. //