Kunstinsert
Jenseits der Leinwand
Der Filmemacher Jan Speckenbach über seine Theaterarbeit mit der Kamera
von Jan Speckenbach
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Akteure Sprechtheater Dossier: Bühne & Film Thalia Theater Volksbühne Berlin

Neben der Live-Videoarbeit am Theater, die ich zuerst für Frank Castorf um 2000 an der Volksbühne begonnen habe, war von Anfang an die Erstellung von Zuspielern ein wichtiger Bestandteil meiner Tätigkeit, also von Videofilmen, die in der Inszenierung laufen, sie kommentieren, erweitern, kontrastieren etc. Ich hatte anfangs den Ehrgeiz, die Leinwand nie leer werden zu lassen. Eigentlich war der Gedanke eher, sie dadurch unsichtbar zu machen, indem sie konstant bespielt wird. Dieser Anspruch war im Grunde nur bei den Arbeiten für Castorf zu realisieren, der den „Gegendruck“ einer solchen Stimme aushielt. Es gibt kaum ein hässlicheres Objekt im Theater als eine Leinwand. Daher freue ich mich immer, wenn man auf andere Objekte projizieren kann, eine Wand, ein Fenster, was immer. Oft hat man ohne Leinwand dann aber Schwierigkeiten damit, dass das Video nicht gut sichtbar ist. Das Licht ist immer dominanter als eine Videoprojektion, man muss also mit der Beleuchtung Rücksicht nehmen, dann wird alles zu duster usw. – die Gründe, Video einfach wegzulassen, sind mannigfaltig …
Video finde ich im Theater dann interessant, wenn es eine eigene Stimme hat. Viele Regisseure erwarten vom Video hauptsächlich eine Art Ergänzung zur Bühne, eine Unterstützung. Paradoxerweise findet aber die genau dann statt, wenn man die eigene Stimme zulässt, und sie wird geradezu verhindert, wenn man sie unterdrückt. Dann wird Video zur Illustration, zur Bestätigung dessen, was eh schon da ist. Und also überflüssig. Video dient oft als Ankerpunkt der Außenwelt oder all dessen, was nicht auf der Bühne sichtbar ist, sei es als Zitat eines historischen Films, als Dokument der Gegenwart oder als Inszenierung einer Fiktion. Das mag ich, weil es der konventionellen Vorstellung von Theater als Einheit von Raum, Dauer und Ablauf (analog zur Dramentheorie) entgegenläuft. Es sprengt sie und bringt damit ein sehr freies Element ins Spiel: das Off, wie es beim Film heißt, oder wie die Franzosen sagen: das hors-champ, also das, was nicht im Bild bzw. auf der Bühne ist. So habe ich an der Hamburger Staatsoper in Amélie Niermeyers Inszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ mit acht Tänzerinnen eine Art stream of consciousness gedreht, in dem ausschließlich die Gefühlswelt der Protagonistin zu Bild kam.
Diese Definition von Video als hors-champ hat sich schon Castorf für seine Live-Videoarbeit zu eigen gemacht, wo man ja im Wesentlichen dort filmt, wohin der Blick des Zuschauers nicht dringt. Dass es dann wieder toll sein kann, genau diese Filmerei unmittelbar vor die Zuschauer zu ziehen, um einen besonderen Schock durch das Aufeinanderprallen des gesehenen und des gefilmten Bildes zu erreichen, eine Art Zusammenstoß von Jenseits und Diesseits, widerspricht dem nicht. In Castorfs Inszenierung von Dostojewskis „Idiot“ gab es einen Moment, in dem Martin Wuttke, Bernhard Schütz und ich mit der Kamera eine enge Treppe hinuntergingen und dann für einen epileptischen Anfall ins Freie traten direkt vor die Zuschauer. Diesen Moment habe ich sehr geliebt. Holbeins toter Christus, den Bert Neumann im Zimmer an die Wand gehängt hatte, weil Dostojewski von ihm spricht, Tod und Auferstehung, Wahnsinn und Klarheit trafen hier aufeinander. Danach war Pause, dem konnte man erst mal nichts hinzufügen …
Eine Zeit lang habe ich dagegen völlig andere Stilmittel erprobt, etwa mit animierten Zeichnungen experimentiert. Für Jan Bosses Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ im Zürcher Schiffbau habe ich Kreidezeichnungen gemacht, Schmierereien, die auf Stéphane Laimés Holzhäuser projiziert wurden und dort ihr Eigenleben entfalteten. Das war sehr zeitaufwendig, hat aber unheimlich Spaß gemacht. Und funktionierte im Theater deshalb gut, weil es immer einen Kontext für diese Kritzeleien gab, an dem sie sich reiben konnten. In einer Galerie wären sie Kunst geworden und damit langweilig.
Der Begriff von Theater hat sich als ungeheuer dehnbar erwiesen. Technische Stilmittel wurden (bei allem Widerstand) integriert, sie zählen nun zu ihm, Video genauso wie Tonspuren inklusive Soundtrack-Kompositionen etc. Das Theater hat vom Film gelernt (und abgestaubt). Das war möglich, weil es seinen Ort, nämlich die Bühne hat, wo alles zusammenfließt. Alles im Theater wird zu Theater. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass es der Film da unvergleichlich schwerer hat, weil er dabei ist, seinen Ort, das Kino, zu verlieren und mit ihm seine Mitte. Wann immer man das Kino verteidigt, wird die Einzigartigkeit des kollektiven Erlebnisses betont. Aber es stellt sich die Frage nach der Relevanz des Arguments, denn das Publikum kommt mehr und mehr abhanden. Sind Streamingfilme auch Kino? Sicher kann man diese Frage oft genug mit Ja beantworten. Das Flatrate-Prinzip bietet aber keinen Ersatz für den Ort, den früher die Programmkinos oder die großen Kinohäuser darstellten, die eine Garantie für bestimmte Formen von Filmen bedeuteten. Eine ähnliche Diskussion gab es im Theater während der Schließungen im Lockdown: Ist Streaming überhaupt noch Theater? Muss Theater nicht immer live sein vor einem Publikum? Bei dieser Diskussion fühlte ich mich an die alte Kritik am Video im Theater erinnert, an den Vorwurf der Distanzierung, die durch das technische Bild aufkomme, der Entfremdung der Mittel usw. Letztlich ist nur entscheidend, ob etwas interessant ist und ob es funktioniert. Die Fragen des Prinzips werden doch auf kurz oder lang gekippt.
Beim Film fängt man immer wieder von vorn an. Man lernt aus diesem Grund zu schätzen, was die Häuser der Theater an Komfort bieten, an Angestellten, Fachkräften, Ressourcen und Equipment. Beim Film kann man nicht auf etwas aufbauen (schon gar nicht auf der Theaterarbeit, die kaum einen interessiert). Gleichzeitig ist meine Rolle beim Filmemachen eine andere, weil ich da selber Regie führe, schreibe und schneide. Mittlerweile interessiert es mich, auch am Theater einmal die Seiten zu wechseln, selbst zu inszenieren. Lange schien mir das unmöglich, eben wegen des Blicks, der meine Sichtweise prägt. Jetzt scheint es mir gerade reizvoll, sich dem Theater aus filmischer Perspektive zu nähern. Aber zum Film zieht es mich nach wie vor, weil da die Rechnungen noch offen sind. Da muss man noch was rausfinden, gerade jetzt, wo es unglaubliche Auftriebskräfte durch die neuen, weltweit vernetzten Märkte gibt und gleichzeitig eine krasse Realität (und Mentalität) der Krise, wenn man vom Kino her denkt. Ob der Kinofilm an dieser Stelle vom Theater lernen (oder gar abstauben) kann, ob weniger mehr sein kann oder ob angesichts der Verdrängungsmechanismen, die gerade wirken, die Algorithmen des Massengeschmacks maßgebend werden, ist nicht endgültig abzusehen. Aber es bleibt eine Hoffnung, dass sich das Besondere durchsetzt, auch wenn es keinen Ort hat.
Ich fühle mich am Theater bis heute als Gast, wenn nicht sogar Zaungast. Sollte ich eine gewisse Souveränität dort haben, dann hängt sie mit diesem fremden Blick auf die Arbeit zusammen. Ich arbeite sehr gerne am Theater und liebe die Schnelligkeit, die hier möglich ist, anders als beim Film, wo alles immer lange in der Vorbereitung dauert, bis man endlich produziert und dann die Hektik ausbricht. Zwar gibt es Panik und Krise auch zur Genüge in der Theaterarbeit, aber sie ist anders gelagert. Man kann über die eigenen Lösungen in der Regel noch einmal nachdenken, zur Not selbst nach der Premiere noch. In „Erniedrigte und Beleidigte“ gab es eine Szene, wo die moralische Doppelzüngigkeit des Fürsten, gespielt von Henry Hübchen, kommentiert werden sollte durch eine Reihe von pornografischen Bildern. Die schoben sich unauffällig in einen Strom aus Werbeclips. Ich habe eine ganze Reihe von Vorstellungen gebraucht, um herauszufinden, dass nicht die schönen Models es waren, die den pornografischen Bildern eine besondere Schärfe verliehen, sondern Clips für Rohrreiniger und Zahnbürsten. Eine solche Arbeitsweise geht aus organisatorischen, finanziellen und medialen Gründen beim Film nicht, wenn man von der Praxis der Testscreenings absieht, die versucht, Erfahrungen mit einem Publikum zu verwerten – daher versucht man, alles vor dem Dreh zu planen und jedes Detail auf seine Notwendigkeit hin abzuklopfen, was etwas Ausbremsendes und Demotivierendes haben kann. Das fühlt sich am Theater anders an, die Freiheit ist dort eine andere. Beim Film gestattet nur der Schnitt ein Überdenken des Gedrehten, der aber funktioniert anders, weil er die Kontexte verändert, nicht die Einstellungen selbst. Mich faszinieren die Ebenen des Schreibens und damit eng verwandt des Schneidens. Da fühle ich mich zu Hause, so widersprüchlich das klingen mag bei einem, der am Theater vor allem mit der Produktion von Bildern beschäftigt ist. Am Theater wieder fasziniert mich die Durchlässigkeit, die gestattet, alles jederzeit infrage stellen zu können und sich der Sache nicht zwingend rational, sondern energetisch anzunähern. Wenn ich vom Film her aufs Theater schaue, so muss ich diesen Blick auch in der Gegenrichtung auf den Film hin wenden. Etwas von dem Freiheitsgefühl, das mich manchmal bei der Arbeit für die Bühne durchläuft, würde ich dem Kino gerne weitergeben! //
Jan Speckenbachs Kinofilm „Die Vermissten“ hatte auf der Berlinale 2012 Premiere, „Freiheit“ 2017 in Locarno. Der Science-Fiction- Kurzfilm „a.N.N.a.“ entstand 2019 am Thalia Theater, Film-Premiere bei den Hofer Filmtagen. Im Theater arbeitete er u. a. mit den Regisseur:innen Frank Castorf, Sebastian Hartmann, Amélie Niermeyer, Jan Bosse und jüngst René Pollesch.