Theater der Zeit

Theater der Zeit 11/1946

Diskussionen ohne Grundlage

Erschienen im November 1946

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Nach einer Diskussion in Künstlerkreisen sagte mir ein englischer Offizier, den ich um seinen Eindruck befragte: „Mir scheint, die Deutschen reden, aber sie diskutieren nicht.“

Nach einem Ausspracheabend von Theaterleuten hörte ich von einem Amerikaner das Urteil: „Sie redeten alle aneinander vorbei, weil nicht über die Sache, sondern jeder über sich selbst sprachen.“

Und nun noch die Bemerkung eines Russen nach einer hitzigen Auseinandersetzung über moderne Bildende Kunst: „Bevor man spricht müsste man sich über die Grundbegriffe einig sein sonst kommen so närrische Missverständnisse heraus wie hier.“

Diese drei Urteile sind wahrlich eines selbstkritischen Durchdenkens wert, denn sie wurden ausgesprochen von wohlwollenden Beobachtern, wenn nicht Freunden. 

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„Die Deutschen reden, aber sie diskutieren nicht.“  Kann man das Fehlen einer demokratischen Tradition präziser und zugleich sinnfälliger ausdrücken? Ich glaube nicht. Die Fähigkeit zu diskutieren, das heißt, in Rede und Gegenrede die Klärung eines Tatbestands zu versuchen, war schon vor 1933 nur ganz schwach bei uns entwickelt. Die Jahre des Maulkorbzwangs und der geistigen „Gleichschaltung“ haben sich dann verheerend ausgewirkt. Niemand empfindet das so stark wie diejenigen, die das Glück hatten, diese Jahre inmitten anderer Nationen zu verbringen und dort geistige Auseinandersetzungen zu erleben. Nicht, als ob dort nicht auch manchmal Unsinn gesprochen würde - nicht das ist es; aber man ist fernab von jener Geschwätzigkeit, die vom Hundertsten ins Tausendste abgleitet: man spricht zur Sache. Der Vortragende stellt einen Sachbericht oder eine auf angeführte Tatsachen gestützte Behauptung zur Debatte, und nun wird von allen, die sich zu Wort melden, untersucht, ob oder wieweit der Vortragende recht hat. Die vorgebrachten Argumente beziehen sich auf die Sache, nicht auf einen wirklichen oder vermuteten weltanschaulichen Standpunkt des Vortragenden und schon gar nicht auf dessen Person. Es sei denn, der Vortragende habe seinen weltanschaulichen Standort oder sein politisches Bekenntnis ausdrücklich zur Grundlage seiner Ausführungen oder Folgerungen erklärt.

„Zur Sache!“ Diesen mahnenden Zuruf des Versammlungsleiters oder der Teilnehmer hört man dort viel häufiger als bei uns, wo er fast in jedem Augenblick angebracht wäre. Und er wird, weil demokratische Tradition obwaltet, als Selbstverständlichkeit befolgt, während von unsern frischgebackenen und daher besonders „empfindlichen“ Neudemokraten - ebenso wie bei jedem polemischen Zwischenruf - sogleich ein gereizte „Ausreden lassen!“ ertönt.

Übersetzen wir das in die Praxis, die wir alle kennen. Es wird, sagen wir, ein Vortrag über Spielplangestaltung gehalten. Das ist die Sache. Man sollte meinen, jeder Diskussionsredner könne Neues und Wesentliches, Grundsätzliches oder Kritisches dazu äußern, ohne dass die Zeit reichen würde, um auch nur die Umrisse des Problems festzulegen. Aber weit gefehlt! Da kommt einer und verbreitet sich eine Viertelstunde lang kritisch über einen zufällig gesehenen Film; ein anderer bringt sein Missvergnügen über die mangelhafte Entnazifizierung aufs Tapet; und der dritte gar lanciert einen persönlichen Angriff gegen irgendeine Person, deren Name in ganz anderm Zusammenhang und lediglich in bezug auf das Vortragsthema fiel. Vergessen ist plötzlich die Sache, um die es geht! Jeder neue Diskussionsteilnehmer stürzt sich eifrig auf den Köder, der ihn besonders reizt; es entsteht ein Herumgerede ohne Richtung, ohne Niveau. Erst im Schlusswort des Vortragenden, - der aber womöglich noch höflich, denn er will ja ein braver Demokrat sein, auf all die nicht zur Sache gehörenden Ausführungen eingeht -, wird man wieder sanft an das eigentliche Thema der Veranstaltung erinnert…

Die Ursache? Wir sagten schon: mangelhaftes demokratisches Bewusstsein. Eine Diskussion, die ihren Namen verdient, ist nicht Selbstzweck. Sie ist keine Unterhaltung und erst recht kein Ersatz für das Selbststudium der diskutierten Probleme. Sie soll vielmehr dazu beitragen, dass zu erkennen, was von der Mehrheit nach gründlichem Überlegen und nach kritischem Überprüfen aller möglichen Standpunkte als Bestes, der Mehrheit am meisten Dienliches erarbeitet wurde. Das Ergebnis soll die Grundlage des gemeinsamen Weiterarbeitens sein.

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„...weil sie nicht über die Sache, sondern jeder über sich selbst sprachen.“ Der diese Worte fand, rührte an ein deutsches Grundübel: den übersteigerten Individualismus, der von vielen auch noch fälschlich als Gipfel demokratischer Haltung ausgegeben wird.

Man diskutiert über eine ganz bestimmte Aufführung. Da steht einer auf und beginnt: „Ich habe leider diese Aufführung nicht gesehen und auch das Stück nicht gelesen; aber ich möchte doch meinem Vorredner ganz entschieden in dem widersprechen, was er da beiläufig über Nietzsche sagte...“ Wer von uns hätte solche und ähnliche Sätze nicht schon dutzendfach in Versammlungen gehört, ohne dass den, der sie sprach, das Gelächter der Teilnehmer zum Schweigen gebracht hätte?

Oder ein anderer meldet sich: „Der Referent erwähnte vorhin den Namen Wedekind. Da kann ich aus meinem persönlichen Erleben eine charakteristische Anekdote beisteuern ...“ Natürlich war auch der Name Wedekind nur ganz beiläufig als Gattungsbegriff gefallen, aber der „Diskussions“-Redner langweilt die Versammlung mit einer Belanglosigkeit und lenkt sie vom Thema ab, weil er einer kleinen persönlichen Eitelkeit frönen, mit der berühmten „Bekanntschaft“ renommieren möchte. Und niemand ruft dem Schwätzer ein kräftiges „Zur Sache!“ zu; denn das wäre ja... „undemokratisch“!

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„…müsste man sich über die Grundbegriffe einig sein.“ Ja, man sollte es allerdings meinen! Denn es führt wirklich zu nichts, wenn einer „Transparenz“ sagt und Surrealismus meint; ein anderer gegen den Realismus polemisiert, aber den Naturalismus treffen will; oder der dritte „Überspielen“ im Sinne von Überzeichnen, Überladen (Chargieren) gebraucht, während es sein Vorredner als Verdecken einer Schwäche des Werks durch das Spiel des Darstellers verstanden wissen wollte.

Sehen wir ganz davon ab, dass in den meisten Fällen auch hier das Fehlen demokratischer Tradition schuld ist, nämlich das Geringschätzen der Meinung des andern, die man deshalb gar nicht erst anhört (oder liest), so bleibt überdies noch etwas ebenso schwer Korrigierbares, nämlich die Sucht, Bildungs- und Wissenslücken durch Schlagworte und Geschwätz zu „überspielen“. Man schämt sich, etwas nicht zu kennen oder zu wissen, was vielleicht gar nicht zu kennen oder zu wissen lohnt, ja, was zu kennen oder zu wissen bei dem zur Debatte stehenden Thema völlig überflüssig ist -, aber statt beispielsweise zu fragen: „Was versteht der Vortragende unter ,Mythos des transparent gesprochenen Dichterworts’ und kann er mir aus dem zur Debatte stehenden Stück vielleicht eine Textprobe geben, ein Beispiel anführen?“ - statt dessen, nämlich statt der Entlarvung eines „Tiefschwätzers“, entbrennt plötzlich eine ebenso abseitige wie sinnlose Diskussion über irgendeine Theologie oder Philosophie: typisch deutsches „Weltanschauungs“-Geschwätz!

Doch sei in diesem Zusammenhang eines unmissverständlich ausgesprochen: Wer eine vom Vortragenden tatsächlich zur Debatte gestellte weltanschauliche oder politische Betrachtungsweise widerlegen will, hat sich, wenn er nicht selbst durchaus in dieser Betrachtungsweise bewandert ist, strikt an den Wortlaut der Ausführungen zu halten; er hat sie nicht zu interpretieren, sondern ihnen vielmehr seine entgegengesetzte Ansicht klar entgegenzustellen. Die Zuhörer mögen dann urteilen.

Wie aber ist es zur Zeit bei uns üblich? Abermals ein Beispiel. Menschen, die kaum eine Zeile von Marx, dafür aber (Nazi-)Bände gegen einen sagenhaften „Marxismus“ gelesen, oft sogar nur etwas läuten gehört haben, unterstellen unbefangen einem ihnen zufällig als Marxisten bekannten (oder gar nur vermuteten) Redner all das dumme Zeug, das sie für „marxistische Doktrin“ halten, und polemisieren nun munter drauflos. Welcher Sache ist damit gedient? Wahrlich nicht der, der diese leichtfertigen „Diskussions“- Redner zumeist dienen wollten - nämlich dem Finden eines gemeinsamen Weges -, sondern einfach der Reaktion. Noch schlimmer ist es jedoch, wenn es (wie beispielsweise neulich bei einer Diskussion über Thornton Wilders „Wir sind noch einmal davongekommen“) geschieht, dass vier Teilnehmer der Debatte sich selbst als Marxisten bezeichnen, das gleiche zwei andern leichthin unterstellen und schließlich vier grundverschiedene, so kuriose Auffassungen der gleichen Sache entwickeln, dass sich jedem Marxisten die Haare sträuben! Wie danach die „Diskussion“, in der nun ebenso verschiedenartige, ebenso konfuse „Gegner“ auftraten, weiter verlief, ist unschwer zu erraten: es war ein verlorener Abend für alle.

*

Freier Meinungsaustausch ist eine Grundlage aller Demokratie. Dahin müssen wir gelangen. Wir müssen lernen, unsere Meinung zur Sache zu sagen. Das geht nicht ohne Kenntnis der Sache.

Wir müssen lernen, unsere Meinung mit andern auszutauschen. Das geht nicht ohne Achtung vor der Meinung des andern, sei sie falsch oder richtig. Bevor wir das aber wissen und beurteilen können, müssen wir sie kennen. Erst dann können wir erfolgreich Argument gegen Argument stellen. Nur so kommen wir weiter.

Diese Forderungen, deren Befolgen in demokratischen Ländern eine Selbstverständlichkeit ist, sind bei uns wieder und wieder zu erheben und in der Praxis durchzusetzen. Denn wir tragen ein furchtbares Erbe: das Erbe des geistfeindlichen Nazismus. Hinzu kommt das jahrelange Abgeschlossensein von allen geistigen Strömungen, Bewegungen und Erkenntnissen des fortschrittlichen Auslands.

Warum legten denn in unsern Beispielen (die sich beliebig vermehren ließen, wie jeder aus Erfahrung weiß) die Redner statt sachlicher Argumente ihre höchst persönlichen Gefühle, ihre individuellen Träume und Spintisierereien dar? Warum gaben sie statt sachlich fundiertem Inhalt missverstandene Schlagworte? Einmal, weil sie nicht bei der Sache bleiben konnten, da sie die Sache nicht kannten und sich gar nicht bemühten, sie kennenzulernen. Zum andern aber - und das ist viel wichtiger zu durchschauen, denn es trifft die Wurzel -: weil sie glaubten, es genüge, die Vorzeichen umzukehren, um zur Demokratie zu kommen. Ja, es handelt sich hier, kurz gesagt, um eine mechanische Umkehrung des geistigen Uniformismus der Nazijahre in einen unverbindlichen, letzthin nihilistischen Skeptizismus, der sich zudem als Höchstform demokratischer Freiheit gebärdet. Sein Ursprung ist dem Wissenden keineswegs unbekannt: es ist die nazistische Atomisierung der Persönlichkeit, die grauenvolle Zerstörung der geistigen Substanz, die weitgehende Vernichtung der Denkdisziplin. Ein nazistisches Erbe ist’s - kein demokratisches Neuland.

Erarbeiten wir uns das Neuland.

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