Theater der Zeit

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Verpetz mich nicht!

RAUM + ZEIT laden ihr Publikum zur Selbsterfahrung ein

von Friederike Felbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Schweiz Berlin Freie Szene Theater Chur Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin Berliner Ensemble

„Berlau :: Königreich der Geister“, Berliner Ensemble 2022.
„Berlau :: Königreich der Geister“, Berliner Ensemble 2022.Foto: Matthias Horn

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Rauchen ist im Krankenhaus verboten“, sagt eine Zuschauerin und versucht damit, ihr Gegenüber vor einem tragischen ­Unfalltod zu retten. Denn Ruth Berlau wird an diesem Abend ­verbrennen, gezündelt durch ihre eigene Zigarette in einem Krankenbett der Charité. Die Schauspielerin Esther Hausmann, eine von drei Darstellerinnen der Koautorin und Geliebten von Bertolt Brecht, kontert: „Verpetzt du mich?“.

Diese Szene – zwischen einer Schauspielerin und ihrer ­Zuschauerin – lotet ein vollkommen neues und doch ambivalentes Verhältnis der beiden Parteien aus: Die Beziehung zwischen Publikum und Spielendem wird aufgehoben, es gibt kein Oben und Unten, getrennt durch die rote Linie eines samtroten Vorhangs. Man trifft sich in diffusen, brettergebauten kleinen Räumen – am Anfang steht jeweils ein komplexes Beziehungs­geflecht: Wer ist wer, wer übernimmt welche Rolle, wie viele Beziehungen sind in einem Raum? Auch für die Schauspielerin Esther Hausmann geht es um eine doppelte Identität – die Figur, die sie spielt, und sie, die Privatperson, die betroffen ist. Eine Veräußerung ist, sobald das Experiment gestartet hat, nicht mehr möglich.

Im Zwölfminutentakt treffen in bisher 34 Vorstellungen 680 Zuschauer auf die drei Schauspielerinnen, die in „Berlau :: Königreich der Geister“ einen ausschnitthaften Einblick in das ­Leben von Ruth Berlau am Berliner Ensemble gewähren. Eine „emotionale Achterbahnfahrt“ nennt Esther Hausmann die Tour de Force an einem Abend. Danach gibt es Gesprächsbedarf. Die drei Kolleginnen Susanne Wolff, Amelie Hillberg und sie selbst treffen sich im Anschluss, besprechen die Zuschauer:innen, ­denen sie separat in ihren „Hütten“ begegnet sind. „Wir haben immer versucht, den Zuschauern gerecht zu werden“, sagt Hausmann, denn jeder Besucher ist anders, aber das szenische Konstrukt ist klar definiert, es kann nur minimale Abweichungen vom genau in minutiösen Zeitplänen festgelegten Timeslots und dem vorgegebenen Text geben. „Die meisten Zuschauer sagen nichts, aber sie antworten innerlich. Man merkt das an den ­Augen, dem Atem“. Nach vier bis fünf Stunden so gegenwärtig sein, beschreibt Hausmann die Erfahrung, braucht es eine „Aufarbeitung und Reinigung“.

Esther Hausmann gehört zu den Schauspieler:innen, die bereits mehrfach mit dem Regisseur Bernhard Mikeska und dem Verein RAUM + ZEIT zusammengearbeitet haben. In einer ihrer bahnbrechenden Aufführungen „Making of :: Marilyn“ fragt ein Zuschauer, selbst Therapeut, beiläufig, ob die Schauspieler:innen eine Supervision erhalten. Tatsächlich ist aus Sicherheitsgründen eine fiktive Krankenschwester in den Aufführungsablauf inte­griert, die jederzeit auf Hilferufe der Beteiligten reagieren soll.

RAUM + ZEIT sind ein Konglomerat aus Künstler:innen aller Sparten, mit oder ohne Vereinsmitgliedschaft. Das Trio an der Spitze sind der Regisseur Bernhard Mikeska, die Dramaturgin Alexandra Althoff und der Autor Lothar Kittstein. Die drei treffen sich buchstäblich in der Mitte, als Alexandra Althoff, damals ­Dramaturgin im Team Oliver Reese am Schauspiel Frankfurt, ­Mikeskas Aufführung „Rashomon“ sieht und für eine Performance, die das Bockenheimer Depot bespielen soll, den Historiker Lothar Kittstein an Bord bringt, der nebenberuflich als Schriftsteller arbeitet.

In einer ersten gemeinsamen Geisterbeschwörung lassen sie zunächst die Frankfurter Ikone Rosemarie Nitribitt, Beruf: tragische Edelhure, und danach die unvergleichliche Marilyn Monroe wiederaufleben. Sie schicken ihre Zuschauer:innen ausgestattet mit Kopfhörern in unterschiedlich gestaltete Parzellen, die mit Perzeption und Erlebnis spielen. In den One-to-one-Begegnungen, die genau durchgetaktet sind, begegnen sich exklusiv ein:e Schauspieler:in und ein:e Zuschauer:in.

In unterschiedlichen Konstellationen und an sehr unterschiedlichen Orten geht es dann weiter.

Mikeska, ein promovierter Physiker, geht bereits während des theaterfremden Studiums bei Jossi Wieler am Schauspielhaus Hamburg in die Lehre. Von dort nimmt er mit: lange sprechen, gemeinsam am Tisch sitzen. Mikeska und seine Mitstreiter:innen kommen nicht aus der freien Szene, sondern sind allesamt am Stadttheater zu Hause – die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen, vergleichsweise luxuriös ausgestatteten Gewerken, aber vor allem auch renommierten Schauspieler:innen prägen und ermöglichen die Qualität ihrer Projekte. Ihr Publikum führen sie in ein stillgelegtes Gefängnis, die Katakomben des Cuvillés­theaters und locken sie in inszenierten Taxifahrten an Originalschauplätze. „Es wird kein Tanzabend!“, bereitet Mikeska seine Zuschauer:innen auf die Innenansicht eines Gefängnisses vor, die von Schließerinnen, zugegebenermaßen sehr trashig, moderiert wird.

In der überdisponierten Stadttheaterlandschaft sind die Projekte von Mikeska & Co. eine willkommene Herausforderung für alle Beteiligten, denn die haben tatsächlich noch nie so etwas gemacht – ihre:m Zuschauer:in Auge in Auge gegenübersitzen, und das in einer konditionellen Kraftanstrengung mit bis zu zwanzigmal am Tag. Das ist eine schauspielerische Herausforderung: Abramovic goes Stadttheater.

Die Gästebücher der Aufführungen dokumentieren, wie ­intensiv und ungewöhnlich das Format für die meisten Zuschau­er:innen ist. Die Idee, sich mit der Hilfe von Stars der Literatur und des Theaters – Thomas Mann, Bertolt Brecht, bald die Familie um Thomas Brasch – mit sich selbst zu konfrontieren, damit haben RAUM + ZEIT eine wahre Nische entdeckt.

„Unheimlich zauberbergig“, schreibt ein Zuschauer anstatt Applaus. Das Sounddesign, das die VR-Filme und die Aufführungen begleitet, ist oft ein elektronisches Wummern und klingt wie beim inszenierten Untergang der Titanic. Seit Beginn der Coronapandemie experimentieren RAUM + ZEIT mit VR-erweiterten Aufführungen. Die Zuschauer werden, ohne Kenntnis davon zu haben und ohne ihr Einverständnis zu geben, in einer initialen Szene gefilmt und verschmelzen dann mit den Protagonisten: Thomas Mann und seiner Familie, Bertolt Brecht und seinem Clan an Kollaborateur:innen. Aufregend und unsittlich ist das Experiment, das RAUM + ZEIT in inzwischen mehreren Formaten, die sich erstaunlich ähnlich sehen und fast wie ein Gebrauchsmuster daherkommen, perfektioniert haben. „Ich möchte nicht, dass das Filmen meiner Person weiterverarbeitet wird. Das ist mir zu persönlich und intim.“ So lautet der Eintrag eines Zuschauers und beschreibt den übergriffigen Teil der Performances. In der Aufführung „Playing :: Karlstadt“ fragt mich die Schauspielerin, per se schon eine Autorität, zu Beginn: „Bist du das, was du einmal werden wolltest? Wovon hast du geträumt, als du jung warst? Wovor hast du Angst?“ Erst dann wird klar, um wen es geht – die Schauspielerin vor dem Auftritt: „Sieh dich an! Was ist? Du bist gleich dran! Die warten alle schon auf dich!“ So funktionieren RAUM + ZEIT in ihren Arbeiten, sie ziehen mich hinein ins Geschehen, und ich sortiere immer wieder neu, wer ich bin, wer spricht und wer ist die Figur, die in mir angesprochen wird. Immer wieder wird mit einem Handwerkskasten aus psychotherapeutischen Settings experimentiert, dabei wird das Publikum nur bedingt darauf vorbereitet. Denn die Entscheidung, an der Performance teilzunehmen, ist bereits wesentlicher Bestandteil des ­Experiments. Erstaunlich, dass in den jüngeren Arbeiten nicht einmal angekündigt werden muss, dass das Publikum im Rahmen der Performance gefilmt wird, der Film innerhalb der Aufführung verwendet wird und – was geschieht im Anschluss mit dem Material? Aber während RAUM + ZEIT weiter experimentieren, sich vergrößern möchten und sich in ihren eigenen Texten den „Sound“ von Thomas Mann, Bertolt Brecht und den vielen geschundenen Frauen einverleiben, die sie gefunden haben, gelingt hier ein Experiment zwischen modernster VR-Technik und analoger Begegnung. //

permanent „RENDEZVOUS – Audiowalk für Zwei“, Berliner Museumsinsel, als Download unter www.raumundzeit.art/rendezvous

ab 01. April 2023 „GOING HOME :: Wer ist Gerda?“, Mecklenburgisches Staatstheater, www.mecklenburgisches-staatstheater.de

08. / 09. / 10. Juni 2023 „BERLAU :: Königreich der Geister“, Theater Chur, www.theaterchur.ch

15.–23. Juli 2023 „IM ZAUBERBERG – Thomas Mann@Davos“, Waldhotel Davos, www.kulturplatz-davos.ch

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