Auftritt
Salzburger Festspiele: Die große Verblendung
„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus – Regie und Bühne Dušan David Pařízek, Kostüme Kamila Polívková und Magdaléna Vrábová, Musik und Videodesign Peter Fasching
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Zehn Abende veranschlagte Karl Kraus für eine Aufführung und rückte die Spielbarkeit seines Monumentaldramas mit dem vielzitierten Wort vom „Marstheater“ in weite Ferne. Sein monströses Schauspiel „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915–22) über den Ersten Weltkrieg wurde denn auch erst 1964 szenisch uraufgeführt. Kein Wunder, die 800 Seiten starke, fast zur Hälfte dokumentarische, laut Kraus „satirische Tragödie“, deren Bucherstausgabe ein lachender Henker zierte, umfasst 220 Szenen an 137 Schauplätzen. Und mehr als 1000 Figuren, dabei auch historische Personen wie der Frontlyriker Ludwig Ganghofer (jodelnd), Kaiser Franz Joseph I. (singt ein Couplet) und Wilhelm II. (sein Spruch „Ich habe es nicht gewollt“ bildet als „Stimme Gottes“ den Originalschluss), zudem ein Optimist und ein Nörgler als Alter Ego des Autors.
Unspielbar? Paulus Manker versuchte es 2018 mit spektakulärem, siebenstündigem Stationentheater. Eher nüchtern geht Dušan David Pařízek (Regie und Bühne) jetzt bei den Salzburger Festspielen in Koproduktion mit der Wiener Burg zu Werk. Er kürzt das Weltkriegs-Panorama auf dreieinviertel Stunden und die Zahl der Figuren von 1114 auf sieben (!) kompilierte Rollen. Ergebnis: Statt überbordender Fülle, statt schneller filmischer Schnitte herrscht didaktische Übersichtlichkeit. Ein aufgeräumter Kraus. Die sieben Darstellenden verkörpern auf leerer Bühne eher Positionen als konkrete Menschen. Der Optimist? Gestrichen. Ebenso die kaiserlichen Hoheiten – textlich teils aufs Restpersonal umgeschichtet. Ein großer Hohlquader, dessen Seitenwände bald passend zum Thema mit großem Knall einstürzen werden, dient als Projektionsfläche für Dokumaterial vom Overhead-Projektor, für Schlagzeilen, Anzeigen und Fotos.
Zu sehen ist das Kraus-Konzentrat auf der Pernerinsel in Hallein, dem Spielort fürs Experimentelle, fernab vom Salzburger Promi- und Adabei-Zirkus. Und noch immer ist der Posten von Marina Davydova, der geschassten Spartenchefin des Schauspiels, nicht wiederbesetzt. Dass nun Intendant Markus Hinterhäuser vorläufig die bescheiden dimensionierte Abteilung leitet, macht deren Zweitrangigkeit umso sichtbarer. Die große Oper hat Präferenz. Und der Neubau eines Festspielzentrums. Strukturreformen? Fehlanzeige.
Zurück zu den sieben Verbliebenen der „Letzten Tage“. Zu ihnen gehört die Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die bei Marie-Luise Stockinger als manipulative Propagandistin durch die Szene geistert, bewaffnet mit daueraufgeregtem Tonfall, flammender Kriegsrhetorik und Kamerastativ. Von ihr fokussiert, lässt sich der deutsche Politiker Sigmund Schwarz-Gelber, den Michael Maertens souverän unterspielt als melancholischen Berufsschönredner in Bademantel und Sockenhaltern, sogar zum Posieren für kriegsmoralstärkende Fotos überreden, „kühn“ oder mit „Feldherrnblick“ – sein Scheitern dabei wird in Großaufnahme zum Heiterkeitserfolg. Grandios auch Dörte Lyssewski, die schon bei der Salzburger Version der „Letzten Tage“ 2014 dabei war: Sie gibt die Gattin und Grande Dame Elfriede, die den Politdarsteller an ihrer Seite resolut antreibt und ihn seiner schwachen Karrieregier wegen verachtet. Subtil gespielte Ehelügen wie im angloamerikanischen Theater.
Wie das Gift langsam in die Sprache dringt, ist das Hauptthema, das Pařízek aus der Kraus’schen Vielstimmigkeit herausfiltert. Zur Figurenauswahl zählt auch ein Feldprediger – bei Felix Rech ein Fanatiker, der „mehr Stahl ins Blut“ fordert und das Töten als „Gottesdienst“ heiligspricht. Und ein Feldwebel, den Peter Fasching in brutalstmöglichen Varianten skizziert. Fehlt noch die Figur des Patrioten, verschmolzen mit dem Viktualienhändler Chramosta – großartig Branko Samarovski als Grantler, der nach Einberufung des eigenen Sohnes immer zweifelnder und stiller wird. Dem Nörgler schließlich, der am Spielfeldrand kommentiert und den Projektor bedient, gibt Elisa Plüss mit neutralem Schweizer Akzent analytische Diskursschärfe.
Ein Donnerblech liefert die Geräusche. Im Off dröhnen Bomben, ein Alphorn bläst zu „Jagderfolgen in Russland“, eine E-Gitarre zitiert den Walkürenritt. Pařízek erweitert die Dialektpalette noch um Hessen nebst Hamburg und erschließt die Kraus’schen Textmassen mit cherry-picking. Ausführlich debattiert wird etwa das Klischee, dass Deutsche mit Organisation, Österreicher mit Charme punkten. Ebenso die Frage, ob ein „Oberbombenwerfer“ so heißt, weil er ranghöher ist oder weil er Bomben „oba“ wirft. Textstellen werden zu Songs vertont – die Kriegstreiberin rappt, der Politiker groovt Bossa Nova. Pařízek meidet Empörungsexpressionismus, setzt auf Stand-up-Comedy, Operette und Musicalrevue. Und driftet teils weit weg vom Verzweiflungsgrad der Kraus’schen Satire. Das Nachdenken über den Krieg bleibt im Bereich des Erwartbaren, ohne das Stück neu zu befragen – in Zeiten, da alte Gewissheiten über Krieg und Frieden angesichts aggressiver Autokratien ins Wanken geraten.
In der zweiten Hälfte wird gegengesteuert. Die Szenen werden kürzer, die Kontraste härter, absurder. Die Regie lässt mehrfach den Vorhang zuziehen und dann doch weiterspielen. Beklemmende Schilderungen vom Untergang des Passagierdampfers „Lusitania“ prallen auf grenzdebile Lobeshymnen zu Ehren des Speiseknödels, zynische Schmonzetten von der Isonzoschlacht auf bittere Gedanken über „Tyrannen aus dem Geist der Massen“. Wiederholt wird ins Publikum gefragt: „Was empfinden Sie jetzt?“ Pařízek verlässt nun die Komfortzone der didaktisch aufgeräumten und aufgehellten Textraffung, zeigt offen das krasse Nebeneinander unerträglicher Widersprüche, zeigt die Zerrissenheit, die Zerklüftetheit des Kraus’schen Szenarios zwischen Hurrapatriotismus, Volksbenebelung und Massensterben. So gelingt es ohne Aktualisierungs-Pädagogik, doch etwas von der Wut des Autors über die Verblendung von Medien und Politik, über Verdummung und Verrohung aufglühen zu lassen. Und so gewinnt Pařízeks Kraus-Extrakt auch Relevanz im Diskurs über Post- und Transhumanismus. Denn der untergehende Held dieser Tragödie ist – die Menschheit.
Erschienen am 4.8.2025