Stück
Ein Ort mitteleuropäischer Geschichte
Autor Thomas Perle und Regisseur András Dömötör im Gespräch mit Nathalie Eckstein und Thomas Irmer über „karpatenflecken“
von Thomas Irmer, András Dömötör, Thomas Perle und Nathalie Eckstein
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Europa Dramatik Sprechtheater Deutsches Theater (Berlin)

Nathalie Eckstein: Thomas Perle, wie ist diese besondere Sprache entstanden, mit der das Stück arbeitet? Ist sie Ausdruck von autobiografischem Material?
Thomas Perle: Der zentrale Ort im Stück, der sogenannte wurzelort, ist meine Geburtsstadt Oberwischau im Norden Rumäniens in der Maramuresch. Dieser Ort war im Laufe der Jahrhunderte geprägt durch Grenzverschiebungen, Fremdherrschaft, Besetzungen und Besatzungen – davon ist natürlich auch meine Familienbiografie geprägt. Also mütterlicherseits kommen meine Vorfahren zum Teil aus dem Salzkammergut in Österreich und zum anderen Teil aus der Zips in der heutigen Slowakei. Die beiden deutschen Volksgruppen haben sich anfangs nicht gut verstanden, als sie sich Ende des 18. Jahrhunderts dort angesiedelt haben. Sie sind sich sehr aus dem Weg gegangen und haben die „teitschi Reih’“ gebaut, gegenüber die „Zipserei“, sie haben also getrennte Häuserreihen auf der jeweiligen Seite des Flusses angelegt, und deswegen gibt es in Oberwischau heute noch den Stadtteil Țipțerai. Dort wohnten zunächst Holzarbeiter, die über Wochen im Wald arbeiteten, während die Frauen im Tal sich um den Hof gekümmert haben. Irgendwann fingen die Folgegenerationen an, sich untereinander zu verheiraten, weil dann doch ein Zipser Holzfäller ein Auge auf ein hübsches Mädchen aus Österreich geworfen hat. Als Staat war eh alles Österreich.
András Dömötör: Österreich-Ungarn. (lacht)
Thomas Perle: Das war das erste Verschmelzen von Sprache, mein Heimatdialekt ist dadurch entstanden, dass dieses Zipserisch aus der Zips gänzlich verschwunden ist und nur noch als Bezeichnung geblieben ist, wohingegen dieses obderennsische Idiom sich bewahrt hat, dieses Österreichische aus dem Salzkammergut. Der Vater meiner Mutter war aus dem Süden Rumäniens, und wie ich neulich erst von Herta Müller gelernt habe, wurde er als Gendarm so weit wie möglich von seiner Herkunftsfamilie ans andere Ende des Landes geschickt, damit er dort keine persönlichen Verbindungen hat. Das war anscheinend im Kommunismus so geregelt, und so hat meine Großmutter meinen rumänischen Großvater geheiratet, weil es eben Zitat Großmutter „keine deutschen Burschen mehr gab, die man hätte heiraten können, weil der Hitler sie ja alle in den Krieg geschickt hatte“. Und so stamme ich von einer deutsch-rumänischen Mutter und väterlicherseits aus der ungarischen Minderheit der Region, wobei da auch ein versteckter jüdischer Teil existiert. Das alles hatte großes Potenzial für ein Familiendrama. 2015 war ich wie jedes Jahr im Sommer in Oberwischau und habe gedacht, ich muss über diesen Ort schreiben, weil dieser Ort einfach mitteleuropäische Geschichte erzählt durch das Hin und Her von Grenzen, Sprachen, Biografien. Da war gerade die Geflüchtetenkrise in vollem Gang, und ich wollte als Dramatiker eine Antwort darauf finden, warum alle Länder plötzlich nationalistisch ihre Grenzen dichtmachten, wie rechtspopulistische Parteien in Parlamente einzogen, wie die AfD in Deutschland. In Österreich hatten wir plötzlich eine rechtspopulistische Regierung, und über die Diktatur von nebenan in Ungarn möchte ich gar nicht sprechen.
Thomas Irmer: In welcher Sprache denken Sie, wenn Sie Ihre eigene Literatur denken?
Thomas Perle: In allen. (lacht) Ich bin dreisprachig aufgewachsen oder viersprachig, wenn man den Dialekt dazuzählt, meine Muttersprache, also meine erste Sprache wäre Deutsch, das Zipserisch oder Wischaudeutsch, um genau zu sein, meine zweite Sprache ist das Rumänische, weil das ja auch eine Muttersprache meiner Mutter ist, dann kommt die Vatersprache dazu, das Ungarische, und dann eben das Hochdeutsche nach unserer Emigration. Und als Kind habe ich auch bemerkt, wie ich gewechselt habe im Denken, weil mein Großvater früher auf mich aufgepasst hat, und da war Rumänisch sehr präsent. Nach unserer Auswanderung war ich meiner Mutter und meiner Schwester und dem deutschsprachigen Teil meiner Familie, der auch ausgewandert war, ganz nah und wechselte ins Zipserische. Danach ins Hochdeutsche. Meine Primärsprache ist das Deutsche.
Und Ungarisch musste ich erst wieder korrekt lernen, als ich während des Studiums zwei Ungarisch-Kurse belegte, weil ich endlich lernen wollte, wie das mit der Vokalharmonie ist, wie man richtig Ungarisch schreibt und liest, das konnte ich nie.
Thomas Irmer: Das Stück ist in einer stilisierten Dialektsprache geschrieben?
Thomas Perle: Ich habe versucht, meine Muttersprache so gut es geht zu notieren. Weil es eine aussterbende Sprache ist, war es ein Anliegen für mich, diese Sprache irgendwie zu konservieren. Die Generation meiner Schwester und meine Generation sind die letzten, die das sprechen. Meine Verwandten sind immer erstaunt, wie gut die deutschen Schauspielerinnen das lesen und unseren Dialekt nachmachen.
Thomas Irmer: „karpatenflecken“ ist also auch eine sprachbewahrende Arbeit.
Thomas Perle: Ja, aber nicht nur das, denn inzwischen wurde es ins Rumänische, Ungarische und Italienische übersetzt.
Thomas Irmer: András Dömötör, Sie haben die Uraufführung inszeniert am Deutschen Theater in Berlin, weit weg von Österreich, Ungarn, Rumänien und diesem Dialekt. Was waren die Überlegungen, das in Berlin auf die Bühne zu bringen?
András Dömötör: Immer, wenn ich mit einem Stück arbeite, suche ich nach einer persönlichen Verbindung. Sonst kann ich nicht damit arbeiten. Das bedeutet, ich muss Probleme oder Versatzstücke aus meinem eigenen Leben suchen, aber in diesem Fall musste ich nicht suchen. Für mich hat das Stück zwei Ebenen: Eine ist der konkrete historische Hintergrund, der viele Gemeinsamkeiten zu meiner eigenen Familengeschichte aufweist. Und die andere ist die politische Ebene, die Thomas schon genannt hat, der aufsteigende Nationalismus und die Frage nach der eigenen Identität in Reaktion auf nationalistische Bewegungen. Wir sind alle gemischter Herkunft.
Wir denken, dass diese Leute dumm sind, aber es ist wichtig, ihre Prinzipien zu verstehen und wie sie verbunden sind mit der Art, wie wir die Welt sehen. Und Thomas’ Stück zeigt, wie man verbunden ist mit verschiedenen Nationalitäten und wie es die Frage nach eigener Identität dekonstruiert. Bist du deutsch, bist du ungarisch, bist du jüdisch? Du kannst nicht sagen, „Ich bin Kosmopolit“, aber du kannst sagen „Ich bin das, das und das“. Und es gibt diese Stelle im Stück, als die Familie in Deutschland beweisen muss, dass die deutsch ist, und ich glaube, das berührt viele politische Diskurse, die heute virulent sind. In Deutschland gibt es permanent Migration, und es ist nicht möglich zu sagen, das sind Osteuropäer:innen, die da kommen, weil das eine Kreislaufstruktur ist, die mit deutschem und österreichischem Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert angefangen hat. Dieses Kreislaufmodell erscheint mir sehr wichtig für Berlin.
Nathalie Eckstein: Gerade wird das Thema der innereuropäischen Migration durch Vertreibung und Flucht relevanter als je zuvor. Wie blicken Sie angesichts der Situation jetzt auf das Stück?
András Dömötör: Ich glaube, das ist ein Effekt von Theater. Dass wenn ein Stück gut ist, wird es immer mit dem in Verbindung stehen, was in der Welt passiert. Und ich möchte nicht, dass der Text reduziert wird.
Mir ist etwas Ähnliches passiert, als ich „Die Pest“ inszeniert habe. Es ging plötzlich nur noch um Corona. Und was die Inszenierung von der „Pest“ auch gezeigt hat: Meine Inszenierung beginnt damit, dass der Sprecher sagt, dass die Menschen nicht an den Krieg glauben. Die Leute denken, dass so etwas nie wieder passieren wird. Und das ist das Problem des Humanismus, dass es einfach außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt, dass ein Krieg passieren kann, und deshalb sind wir nicht darauf vorbereitet. Und ich, und das mag düster klingen, aber ich war vom Krieg nicht überrascht. Und ich denke auch, dass das, was wir vorher hatten, die Jahrzehnte des Friedens, eine Illusion war, denn wenn wir uns die Geschichte anschauen, dann gibt es ständig Kriege, und dieser hier ist im Grunde genommen näher an uns dran, aber es gibt viele Kriege, die einfach nicht in unserer unmittelbaren Nachbarschaft sind. Und so war dieser Krieg für mich nicht so schockierend. Natürlich, die Schreie sind näher, und man spürt, dass sie näher sind. Ich habe keine wirklichen Illusionen über unsere Geschichte. Es ist nur realistisch, dass wir einen Krieg haben, dass wir eine Pandemie haben, dass wir ständig mit diesen Katastrophen und Unglücken konfrontiert sind. Ich würde sagen, dass ich ein Optimist bin, ich denke, wir können immer einen Weg finden, auf diese Krisen zu reagieren, aber zu sagen: „Wow, das passiert jetzt, das war nicht erwartet“, halte ich für sehr naiv. Und selbst ich, der ich aus Ungarn komme, sage so etwas nur in dieser europäischen Blase.
Thomas Irmer: Anders gefragt – ist das seit Februar ein anderes Stück geworden?
Thomas Perle: Das Thema Flucht und Vertreibung ist Teil meiner Familienbiografie, und das hat sich natürlich auch ins Stück eingeschrieben, meine Urgroßeltern sind 1944 mit fünf Kindern vor der Roten Armee ins Sudetenland und später nach Ungarn geflohen, wo sie den Krieg überlebt haben. Und dieses Trauma hat sich natürlich auch in mir festgeschrieben und wird immer Teil meiner Geschichte sein – und lässt die jetzige Situation sehr emotional erleben. Bei meinen Großtanten kommt alles wieder hoch. Ich beobachte, wie das in deren Generation so stark wird, dass meine Großtante sich letztens selbst wiedererkannt hat in den Kindern auf den vielen Bildern von der Flucht vor dem Krieg.
Thomas Irmer: Der Titel kann eine geografische Nähe suggerieren, also die Karpaten, die bis in die ungarisch besiedelte Westukraine reichen.
Thomas Perle: Dazu habe ich ein Kinderbuch geschrieben, zur Geschichte der Marmarosch, die lange als Komitat Máramaros doppelt oder dreimal so groß war und eben ein heutiger Teil der Ukraine ist. Das Kinderbuch soll jetzt illustriert werden.
Thomas Irmer: Ich würde gern noch über die Elemente des magischen Realismus sprechen, also der sprechende Berg und der sprechende Wald.
Thomas Perle: Ach Gott, der Wald und der Berg. Wenn du, András, sagst, du wärst ein Optimist – als ich diese Szene geschrieben habe, war ich doch ein ziemlicher Pessimist, da der Berg anfing, mit mir zu sprechen. In den Waldkarpaten ist der Wald sehr präsent, und ihm wird Gewalt angetan. Es gibt unkontrollierte Abholzung, und die Waldmafia treibt ihr Unwesen. Ich habe für diesen Wald gesprochen und für den Berg, aber eben in einer fernen Zukunft. Meine Dystopie war, damals auch ohne Krieg, mit der Klimakrise und anderen Krisen, die wir durchstehen, dass wir irgendwann einfach nicht mehr existieren werden. Also der Mensch macht die Natur kaputt, aber die erholt sich ja wieder, das war auch die Idee von Wald und Berg – was ist für die eine Million Jahre?
András Dömötör: Für mich geht es in der Szene um Zeit und dass wir Zeit als eines der Prinzipien des Textes verstehen. Ich habe die Jahreszahl auf die Wand projizieren lassen. Und wir sehen den Countdown bis 1942, wo das Stück beginnt. Ich wollte das Stück mit einer anderen Perspektive beginnen und eine Ebene schaffen, die über die Zeit reflektiert, das war der Punkt, und auch die Idee von mir, dass die Großmutter den Berg spielt und die Mutter den Wald, um ihre Konflikte oder ihre Beziehung zu entwickeln, dass die Großmutter diese uralte Göttin ist, die über das Schicksal der Familie entscheidet, und im Vergleich zu ihr ist die Mutter nur der Wald, und dann kommt das Enkelkind, das wieder eine andere Generation als Mensch ist.
Thomas Perle: Die drei Schauspielerinnen sind grandios, ich war wirklich begeistert von diesem Ensemble, weil die schon so eine deutschsprachige Diversität reinbringen. Wir haben zum einen Katrin Klein, die in Ostberlin und in der DDR eine Vergangenheit hat und seit 40 Jahren ein Urgestein am Haus ist, dann haben wir die Schweizer Schauspielerin Judith Hofmann und die jüngste, die Österreicherin Julia Windischbauer. Auch das fand ich faszinierend, diese drei Generationen, aber darin auch eine Dreistaatlichkeit, und gespielt wird es in einem vierten Staat, nämlich der neuen Bundesrepublik. //
Am 9. Juni ist die Inszenierung zu Gast beim Dramatiker:innenfestival in Graz.
Im Deutschen Theater wieder am 14./15. Juni.