Theater der Zeit

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Einleitung

von Matthias Quabbe und Judith Jaeger

Erschienen in: And here we meet: Choreography at the edge of time – Alexandra Waierstall (06/2025)

Crossing Borders, Alexandra Waierstall, Nicosia International Airport, 2007.
Crossing Borders, Alexandra Waierstall, Nicosia International Airport, 2007.Foto: Natasa Andeou

Die choreografische Praxis von Alexandra Waierstall ist nicht notwendiges Instrument zur Herstellung einer tänzerischen Komposition, sondern eine Form des gemeinsamen Verhandelns von Körpern in ihren Konstellationen, Relationen und Wechselwirkungen, eine Praxis gemeinschaftlicher Empathie im Kontext von Raum und Zeit. Die Choreografien von Alexandra formulieren eine spezifische Ökonomie des Aushandelns, die eine gemeinsame Bewegung zur Folge hat, in der alle Elemente partizipieren und die einen Raum der Aufmerksamkeit öffnet, in dem sich die Zuschauenden wiederfinden können. Es ist eine Form des im Moment Seins. So werden aktuelle Diskurse wie Fragen nach Herrschaft, Hierarchie, das Verhältnis von sozialem Gefüge und individueller Verantwortung nicht als Prämisse formuliert; stattdessen entstehen durch diese spezifische Art des gemeinsamen Agierens Destillate menschlicher, politischer, sozialer Verhältnisse, durch die gesellschaftlich relevante Themen wie ein Echo schimmern.

In Alexandras Schaffen steht die choreografische Arbeit als körperliche Manifestation einer sozialen und temporalen Skulptur im Vordergrund. Darin geht es immer um die Verhältnismäßigkeiten von Körpern in ihrer Materialität und Bezügen in einem Gefüge mit anderen Körpern – ob sie nun anwesend sind oder nur vorgestellt als eine unausweichliche Realität. Daher erscheinen die Körper in Alexandras Arbeit immer als gleichermaßen starke wie verwundbare Körper, die immer eine Form von Nacktheit anschaulich machen und so die Zerbrechlichkeit als eine grundlegende Verfasstheit (aller) menschlicher Körper formulieren. Diese verwundbare Konstitution entspringt einer Welt im permanenten Fluss von Materie und Energie. Die kleinste Einheit, die den Menschen in dieser Konstellation beständig begleitet, ist der Moment, der als ephemere Einzigartigkeit wahrgenommen werden kann, um darin die Ausmaße des ganzen Seins zu erahnen. In der Praxis geht es um die Entfaltung dieser Momente als Geschehen im Hier und Jetzt mit anderen, die das Magische mit dem Banalen konfrontiert und sich wie das Echo einer möglichen Zukunft ausbreitet.

Alexandras choreografisches Werk kreist um diesen flüchtigen Moment, in dem Körper aufeinandertreffen, immer am Rande des Vergehens – die stärkste Wirkung im zerbrechlichsten Augenblick, genau zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es ist umgeben von einem subtilen visuellen Gespür, welches Eigenschaften von Stabilität und erkennbarer Form hinzufügt, um einzigartige Momente entstehen zu lassen, die die Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit von Gemeinschaftlichkeit enthalten. Diese Dualität definiert ihr choreografisches Schaffen und verleiht ihrer Arbeit eine seltene Qualität: Sie ist sowohl flüchtig als auch visuell zeitlos, während Form und Substanz verschmelzen und den Anschein von Beständigkeit erwecken, im Angesicht dessen, was von Natur aus unbeständig ist.

Dieses Buch ist eine Fortsetzung ihrer Arbeiten auf Bühnen, in Museen und im Freien, die einen weiteren Raum öffnet: Seiten, die – trotz ihrer Zweidimensionalität – nachhallen und durch die Reflexion vergangener Projekte kreative Räume erschließen und Fragen für die zukünftige Arbeit aufwerfen. Die folgenden Seiten laden zu einer dynamischen Konversation zwischen visuellen und diskursiven Elementen ein, die nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Erforschen anregt. Sie bieten mehrere Einstiegspunkte, von einem Gespräch mit Alexandra über ganzseitige Fotografien und sechs Essays bis hin zu einer Sammlung von Arbeitsmaterialien und Bildern von hinter den Kulissen. Ganz gleich, ob Sie mit Alexandras Arbeit vertraut sind oder ihr zum ersten Mal begegnen, diese Sammlung gewährt sowohl einen Überblick als auch einen offenen Raum, in den Sie eintauchen, sich verirren, nachempfinden, sich Zeit nehmen, innehalten, herumspringen, verweilen können – eine fröhliche Auseinandersetzung mit der Arbeit und Praxis von Alexandra.

 

Seite 8

Ich sehe Dich mich sehen – Die Poesie gegenseitiger Betrachtung

In diesem Interview spricht Alexandra über zentrale Interessen, die ihre Arbeit während ihrer gesamten Karriere begleitet haben, über die visuellen Beziehungen zwischen Klang und Raum, über Qualitäten des Femininen und über ihre Familie als Quelle der Inspiration.

Seite 18

Im Folgenden findet sich eine Reihe ganzseitiger Fotografien der Produktionen von 2010 bis 2024, die eine nahezu körperliche Erfahrung bieten. Das visuelle Arrangement setzt verschiedene Facetten miteinander in Dialog: die radikale Präsenz der Tänzer:innen, ihre Bewegungen, die subtilen Beziehungen in verschiedenen Räumen, feine Texturen, Licht, Schatten und Gold, Nähe und Distanz, die sich auch im Kontext ihrer jeweiligen Platzierung entfalten.

Seite 80

Es folgen sechs ausführliche Essays, die ausgewählte Aspekte von Alexandras choreografischem Gesamtwerk und ihren Methoden, Herangehensweisen und einzigartigen Perspektiven beleuchten. Sie eröffnen spezifische Einblicke, kontinuierliche Reflexionen und die konzeptionellen Linien, die sich durch ihre Praxis und Projekte ziehen.

Zwischenstände

Melanie Suchy fängt die Poetik von Nähe und Distanz aus der Perspektive des Publikums in einer Vielzahl von Projekten ein, die von den Anfängen von Alexandras Karriere bis in die Gegenwart reichen.

 

Fließende Zukunft: Choreografie als Modell des Miteinanders

Paraskevi Tektonidou reflektiert den tief verstrickten Kosmos von Arbeitsbedingungen und Arbeitsmethoden, auch aus der Perspektive der Tänzer:innen selbst.

 

Schimmern, schwingende Form

Joao da Silva behandelt Alexandras Zugang zu und Arbeit mit Open Form Composition im Laufe ihrer Karriere.

 

Zeit schürfen

Roberto Fratini Serafide untersucht den Aspekt der Zeit in Alexandras Werk als Goldmine mit zahlreichen Schichten, in denen Darstellung und Transformation eng miteinander verbunden sind.

 

Open Source: Momentum

Emily Markert beschreibt die choreografische Arbeit in einem Museum, insbesondere hinsichtlich Momentum von Rita McBride, Alexandra und discoteca flaming star (2023-2024) im Dia Beacon.

 

Schichten des Zuhörens

Monica Gillette führt ein persönliches Gespräch mit Alexandra über Aufmerksamkeit, körperliche Empfindungen beim Choreografieren und Zuhören als choreografische Praxis (mit den Tänzer:innen).

 

Seite 130

Auf diese Reflexionen folgt ein einzigartiges Kaleidoskop, das die Jahre 2000 bis 2024 abdeckt und sich um Alexandras Universum und den Verlauf ihrer Karriere dreht, wobei spezifische Aspekte und Prinzipien ihrer Praxis angesprochen werden. Die Sammlung von Archivmaterialien – Aufführungstexte, Notizen, Skizzen und Fotografien aus dem Studio – gibt Einblick in ihre kreativen Prozesse und ergänzt ihre Talks, Open Studios und Workshops um weitere Perspektiven.

 

Seite 180

Den Abschluss des Buches bilden die Biografien der Autor:innen, der Choreografin und der Herausgeber:innen sowie das Werkverzeichnis und die Bildnachweise.

 

Gleich zu Beginn findet man das Cover des Buches mit dem Titel And here we meet: Choreography at the edge of time. Damit ist der Kern von Alexandras Arbeit angesprochen: die Zerbrechlichkeit des flüchtigen Moments. Es ist ein sehr persönlicher Moment, den wir mit uns selbst erleben können oder in unserem täglichen Leben; wir begegnen solchen Momenten im persönlichen Austausch ebenso wie in der Choreografie selbst, wenn jede Bewegung nur ein Übergang zum nächsten Moment ist, ein stetiger Fluss von einem Zustand zum anderen. Dieses Buch möchte auch einen Raum schaffen, eine kurze Ausdehnung der Zeit, eine sanfte Leere, die es für einen Augenblick ermöglicht, durchzuatmen und die Verflechtung von Körpern in Bewegung zu spüren, von Zeit und Raum.

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