Theater der Zeit

Thema Ukraine

Was soll das Theater jetzt tun?

Theaterkünstler:innen antworten

von Thomas Ostermeier, Johan Simons, Yana Ross, Marina Abramovič, Steffen Mensching, Roberto Ciulli, Theodoros Terzopoulos, Burghart Klaußner, Lev Dodin, Jan Klata, Nino Haratischwili, Oliver Frljić, Aleksandar Denić, Marta Górnicka, Marina Davydova, Ewelina Marciniak, Julia Lwowski, Stas Zhirkov, Margarita Zieda und Pierre Bokma

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

Assoziationen: Debatte Europa Dossier: Ukraine

Das vom russischen Luftangriff zerstörte Theater in Mariupol. Foto picture alliance
Das vom russischen Luftangriff zerstörte Theater in Mariupol.Foto: picture alliance

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STAS ZHIRKOV

Regisseur und Intendant des Theaters am Linken Ufer in Kiew (s. Theater der Zeit 12/21 und Theater der Zeit 01/19), zurzeit in Litauen

I am ok now, with my family in Lithuania!
One month I was alone in Lviv and after get special permit from Minister of Culture to get out!
But our flat in Kyiv destroyed …
Because we lived near Kyiv, near Bucharest and Irpin …
So, if you can help me to get some projects in Germany – it would be great …
Thank You!

 

MARTA GÓRNICKA

Regisseurin, Autorin, Sängerin

Hier sind meine Worte für Sie. Und meine persönliche Reaktion auf die Situation in der Ukraine. Ich hoffe, dass wir uns bald treffen und mehr miteinander reden können. Im Moment ist mein Zuhause ein Ort für ukrainische Flüchtlinge, viele Theater und Kulturräume in Warschau wurden in Schutzräume und Orte der Intimität für Kinder, ältere Menschen und Tiere umgewandelt. Das ist eine echte Antwort auf den Schmerz. Und wir alle, die Künstler, werden gerade jetzt zu sozialen Aktivisten.
IN ZEITEN DES KRIEGES brauchen wir das Theater als Schutzraum und Heimat für die Gemeinschaft. Ein Theater, das all jenen, die vor Gewalt fliehen, den Atem verschafft. Ein Theater der Intimität, das mit ANDEREN Stimmen in Resonanz gehen wird. Das in der Lage sein wird, neue Gemeinschaftsgeschichten zu erzählen, solche, die wir nicht hören und die wir uns noch nicht vorstellen können.
ZU EINER ZEIT, IN DER DIE UKRAINE SCHREIT, in der der Völkermord direkt neben uns stattfindet, brauchen wir das Theater mit seiner Kraft der Transformation. Die Kraft, sich an das Ungeheuerlichste zu erinnern. Ein Theater, das geduldig zuhört.
Ein Theater, das eine neue Sprache für den Krieg schafft – nicht eine verstümmelte Erzählung über ihn, nicht westzentriert.
Sondern seine eigene.
Ein Theater der neuen Formen der Solidarität. Und neuer Rituale.
Ein Ort, an dem eine bessere Welt denkbar und möglich ist.
Wir brauchen Praktiken, die der CHOR mitbringt, der lange vor der Geburt des Theaters kommt – Gemeinschaftspraktiken, Heilung. Das ist die Zukunft, die ich für das POLITICAL VOICE INSTITUTE am Maxim Gorki Theater in Berlin und meine Arbeit mit dem Theater und dem Chor am Dramatischen Theater in Warschau sehe.

 

EWELINA MARCINIAK

Theaterregisseurin

Unser großes Privileg als Künstler:innen ist es, dass unsere Stimme gerade in diesen Zeiten von vielen Menschen gehört wird. Wir müssen über die Gewalt und über die Gräueltaten sprechen, die zurzeit in der Ukraine geschehen. Wir dürfen nicht still sein, wenn unschuldige Kinder darunter leiden. Wichtig ist, dass wir ganz klar kommunizieren, was Russland dieser Tage tut – sie denken, dass ihr Land heilig ist und die Macht verkörpert, deshalb töten sie Menschen. Unsere Verantwortung als Künstler:innen ist es, dass wir diese Verbrechen ganz klar benennen. Wir leben in Kriegszeiten. Was das PUblikum von uns erwartet, das ist schwer zu sagen. Viele wünschen sich sicherlich, dass das Kriegsthema in möglichst vielen Theaterproduktionen aufgegriffen wird. Andere würden das Thema wohl am liebsten totschweigen. Am wichtigsten ist es zu erkennen, dass sich unsere Wirklichkeit radikal verändert hat. In dieser neuen, zerrissenen Wirklichkeit bekommen viele Themen eine ganz neue Bedeutung. Dass zurzeit so viele Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland kommen, sehe ich als große Chance. Sie bringen Vielfalt an unsere Bühnen. Ziel muss sein, dass sie an internationalen Bühnen arbeiten und ihren Standpunkt einbringen dürfen.

 

MARGARITA ZIEDA

Theaterkritikerin und Ko-Autorin von Alvis Hermanis’ „Gorbatschow“ in Moskau

Ich glaube, man braucht heute mehr als je zuvor solche Theaterabende wie Robert Lepages „The Seven Streams of the River Ota“ (vor Kurzem gezeigt bei FIND an der Berliner Schaubühne), die die Menschlichkeit vermehren und die den Zuschauern Kraft geben.
Man braucht heute nicht nur die Geschichten, die den Menschen gnadenlos kritisch durchleuchten, sondern viel mehr auch solche, die den Glauben an den Menschen wiederherstellen.
Statt Dystopien anzuhäufen, könnte man Geschichten finden und erzählen, in denen man spürt, dass die Welt noch zu retten ist. Und jeder kann noch dazu beitragen.

 

OLIVER FRLJIĆ

Theaterregisseur

Das Theater sollte sich immer den Wert jedes einzelnen Menschenlebens vergewissern. Das ist die ethische und künstlerische Lektion, die ich aus dem antiken Drama „Antigone“ gelernt habe. Dieser Erkenntnis kostet dessen Protagonistin unglücklicherweise das Leben. Ich selbst kann nicht beschreiben, wie jeder Einzelne dieses Prinzip im eigenen Theaterschaffen umsetzen kann. Jedoch habe ich selbst den Krieg in Jugoslawien miterlebt. Die erste Lektion, die mich dieser Krieg gelehrt hat, ist, wie wertlos mein Leben ist. Als 16-jähriger Junge, der aus einer serbisch-kroatischen Familie kommt, hat mich jede Seite zunächst als Feind betrachtet. Jeden Tag musste ich damit rechnen, von einer serbischen Bombe oder vom kroatischen Militär getötet zu werden. Doch welchen Unterschied würde das machen?
Ich bin überzeugt, dass am Ende dieses Krieges – falls er nicht zur Auslöschung der menschlichen Rasse führt – die Armen noch ärmer werden und die Maschinerie der Ausbeutung noch gnadenloser wird. Bertolt Brecht drückt das viel besser als, als ich das je könnte:
„Der Krieg, der kommen wird Ist nicht der erste. Vor ihm Waren andere Kriege. Als der letzte vorüber war Gab es Sieger und Besiegte. Bei den Besiegten das niedere Volk Hungerte. Bei den Siegern Hungerte das niedere Volk auch.“
(B. B.)

 

THOMAS OSTERMEIER

Regisseur, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne

Die Frage weist schon auf ein Problem hin: Wir haben es hier mit einer menschlich-politischen Katastrophe zu tun, ein Angriffskrieg von einem Kriegsverbrecher und autoritären Herrscher, mittlerweile muss man vielleicht sogar Diktator sagen. Das ist das politische Feld und wenn das Theater die Macht hätte, in dieses politische Feld, direkt einzugreifen, dann wären wir kein Theater, sondern eine Partei oder eine Regierung, eine Staatsführung, eine Armee. Diese Macht haben wir nicht. Und das heißt nicht, dass wir uns nicht mit dem Phänomen beschäftigen sollen, und da bin ich schon beim zweiten Punkt: Das Phänomen Krieg, Verbrechen, Aggression, Imperialismus, Diskriminierung, Emanzipation, Autonomie, Unterstützung von Autonomiebewegungen usw. sind Themen der Menschheitsgeschichte, die wir vom Theater seit zweieinhalbtausend Jahren kennen. Mir kommt da gleich ein Stück in den Sinn, weil ich mich frage, sollte es denn hoffentlich so schnell wie möglich ein Ende des Kriegs geben, wie schafft man es, diese unglaublichen Wunden, die dort aufgerissen wurden, die Verbrechen, die dort begangen wurden, so aufzuarbeiten, dass es wieder zu einer Verständigung zwischen diesen beiden, wie Putin selbst sagt, slawischen Brudervölkern kommt. Vielleicht bin ich da auch einen Schritt zu weit, aber da kommen mir „Die Perser“ in den Sinn, in dem jemand nach dem Krieg den Krieg beschrieben hat aus der Position von jemandem, der unterlegen ist, aber geschrieben von jemandem, der Sieger oder Gewinner des Kriegs ist. Das wäre ungefähr so, wie wenn jetzt die Ukrainer nach dem Ende des Kriegs ein Stück über die Russen schreiben würden oder eine Form von Empathie begreifen würden, und da sind wir sehr weit von entfernt. Aber das ist die Aufgabe des Theaters, diese Perspektiven einzunehmen, diese extrem widersprüchlichen und herausfordernden Perspektiven einzunehmen.

 

JOHAN SIMONS

Regisseur, Intendant des Schauspielhauses Bochum

Die Frage, was das Publikum vom Theater in Kriegszeiten erwartet, bereitet mir Unbehagen. Denn Kriegszeiten gab es auch vor dem furchtbaren Angriff auf die Ukraine: Syrien, Afghanistan, Irak, Kongo … Sind diese Kriege weniger wichtig, weil sie weit weg sind? Nun ist uns der Krieg erschreckend nah gekommen und trotzdem bleibt es für mich unvorstellbar, welch unsägliches Leid die Menschen erfahren. Es macht mich betroffen. Und gibt mir ein Gefühl der Hilflosigkeit. Aber dieses Gefühl darf nicht zu Resignation oder gar Ohnmacht führen. Theater muss jetzt – wie eh und je – ein Ort sein, der die Ursachen menschlicher Konflikte hinterfragt, Gedanken freisetzt und Dialoge in Gang bringt.

 

STEFFEN MENSCHING

Intendant Thüringer Landestheater Rudolstadt

Wir werden keinen „Kriegsspielplan“ erstellen, unser Programm ist auf Frieden, Dialog und Gemeinsinn ausgerichtet. Daran wollen und werden wir weiterarbeiten. Die zynische Behauptung, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, stimmt heute weniger denn je. Es ist ein Rückfall in die Barbarei. Und im atomaren Zeitalter ein Hasard mit dem Weltuntergang, ein globales russisches Roulette. Auch wenn es im Augenblick unpopulär scheint, die Menschheit muss zurückfinden zu Friedensverhandlungen, Entspannung und Abrüstung. Dazu gibt es keine Alternative. In Zeiten wie diesen ist die Gefahr groß, dass die Menschen an Vernunft und humaner Kondition zweifeln und in Depression und Fatalismus verfallen. Die Künste müssen dieser Stimmung, die ihre Berechtigung hat, ein kreatives Trotzdem entgegensetzen. Dass wir alles tun werden, um den Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen und ihren Aufenthalt bei uns zu erleichtern, ist eine Selbstverständlichkeit.

 

NINO HARATISCHWILI

Regisseurin, Autorin

Tja, was sollte das Theater jetzt machen?
Ich denke, das Gleiche, was wir alle Menschen, denen Freiheit und Demokratie wichtig ist, tun sollten: mit allen, uns zur Verfügung stehenden Mitteln – und ich bin mir im Klaren, dass sie sehr unterschiedlich sind – protestieren, laut werden, hinsehen, die Fassungslosigkeit kundtun über das, was diese schreckliche Diktatur tut und treibt, zu welcher Gewalt und Grausamkeit sie fähig ist, und sich mit den ukrainischen Menschen solidarisieren – sei es psychologisch, finanziell oder emotional. Das Wichtigste scheint mir, dass nicht das Gleiche geschieht, was meist geschieht, wenn wir uns an „fremde Kriege“ gewöhnen, wenn sie irgendwann nur noch bloße Nachrichten im Fernseher sind: Denn dies ist kein fremder Krieg, dies ist auch ein Krieg gegen all die Werte, die uns Menschen in Europa vereint und somit ist dies ist auch ein Krieg gegen uns. Der Westen hat lang genug ignoriert, kollaboriert und mit dem Wegsehen diesem totalitärem Regime die Illusion gegeben, dass es alles darf und alles kann, um die eigene Macht zu sichern, denn Georgien, Tschetschenien, Syrien und sogar die Krim schienen fern genug … Nun ist der Krieg in Europa angekommen und so dürften wir uns die gleichen Fehler aus der Vergangenheit nicht mehr leisten!

 

MARINA DAVYDOVA

Chefredakteurin der mittlerweile eingestellten Zeitschrift Teatr und Mitbegründerin des internationalen Theaterfestivals NET (Neues Europäisches Theater) in Moskau

Russland und das russische Theater insbesondere werden nun von der schärfsten Militärzensur kontrolliert: Jedes wahre Wort kann die berufliche Existenz gefährden. Und immer öfter hört man die Äußerung, dass man in dieser gefährlichen Situation das Recht hat zu schweigen. Ich denke da anders.
Theater- und Kulturleute, die per se einer humanitären Sphäre zugehören, haben mit der Wahl ihres Berufs ein gewisses Maß von Verantwortung und Risiko auf sich genommen. Auf die Frage, ob jemand voller Angst vor einem Feuer davonläuft, anstatt es zu löschen, sage ich, das kann passieren. Aber wenn es darum geht, dass ein Feuerwehrmann davonläuft, sage ich, das darf nicht passieren.
Anders als Bauarbeiter, Piloten, Flugbegleiter oder Kassiererinnen arbeiten Kulturschaffende mit Bedeutungen und Ideen. Das ist ihr Privileg und zugleich ihre Pflicht. Sie haben kein Recht, einfach weiter Theaterkritiken zu schreiben oder Inszenierungen aufzuführen, ohne ihre Haltung zu dem Krieg zum Ausdruck zu bringen, den ihr Land losgetreten hat. Alle anderen Bedeutungen, an denen sie arbeiten, sind in dieser Situation des Schweigens bedeutungslos.
Das Theater sollte (auch nicht in Kriegszeiten) zu einem Massenmedium gemacht werden. Es ist nicht dafür da, Nachrichten zu übertragen. Das Theater kann und soll tun, was es immer schon gemacht hat – das Leben in seinen sozialen, existenziellen und ontologischen Aspekten zu erforschen. Aber die Leute, die das Theater und die Kultur erschaffen, sollten sich in der Öffentlichkeit positionieren.
Ich bin mir sicher, wenn Dutzende, Hunderte, ja sogar Tausende Vertreter der russischen Kultur sich öffentlich positionieren würden, kann das die Lage in Russland entscheidend verändern. Es macht mich traurig, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Kulturschaffenden sich immer noch für die Schande des Schweigens entscheidet.

 

MARINA ABRAMOVIĆ

Performance-Künstlerin

Wissen Sie, erst einmal ist die Aufgabe eines:r Künstlers:in, die Wahrheit zu sagen. Die Aufgabe eines Künstlers ist, verantwortungsbewusst zu sein und mit seinen Mittel zu agieren. Jede:r muss einen eigenen Weg finden und mein Weg ist Performance. Ich mache eine Spendenaktion für die Ukraine am 16. April, mit einer Arbeit, die ich wiederhole – „The Artist is Present“ im Sitzen – und die Menschen können dafür spenden. Wir haben jetzt schon 150 000 Dollar gesammelt, die direkt in die Ukraine fließen für Medikamente etc. Und das ist das, was ich machen kann. Ein Schriftsteller muss seine Arbeit machen, ein Theaterintendant muss seine Arbeit machen, ein Politiker muss seine Arbeit machen. Ich glaube, das ist nichts Äußeres. Jede Person muss sich selbst fragen: Was kann ich in dieser Situation tun? Und ich tue meinen Teil.

 

ROBERTO CIULLI

Regisseur, Autor und Leiter des Theaters in Mülheim an der Ruhr

Diese Frage stelle ich mir grundsätzlich nicht. Ich hätte viele meiner Projekte nicht gemacht, wenn ich an die Wünsche des Publikums gedacht hätte. Es ist auch gar nicht nötig. Denn schon Aischylos schrieb seine Tragödie „Die Perser“, um den siegreichen Griechen klarzumachen, welches Leid sie über die unterlegenen Perser gebracht haben. Das ist die Tradition, in der wir stehen. Im Prinzip mache ich seit 60 Jahren nichts anderes. Ich bin 1934 geboren. Natürlich weckt der Krieg in Europa Kindheitserinnerungen. Nach 1945 gab es eine Menge Kriege, in Korea, Vietnam, auf dem Balkan und anderswo. Wir waren oft mit dem Theater an der Ruhr in Städten und Regionen unterwegs, die durch Kriege zerstört worden waren. Wir haben auch die Theater von dort zu uns eingeladen. Genau das werden wir weiter tun, um vom Leid der Menschen und von der Hoffnung auf Frieden zu erzählen. Hoffnung möchte ich nicht vom Zustand der Welt abhängig machen. Hoffnung ist eine Frage des Bewusstseins oder auch des Glaubens. Ich bevorzuge jedoch das Bewusstsein.

 

ROMAN DOLZHANSKIY

Theaterkritiker und Künstlerischer Leiter des internationalen Theaterfestivals NET (Neues Europäisches Theater) in Moskau

Offensichtlich hat das Theater zwei Möglichkeiten: Die eine ist, dem Zuschauer eine Flucht vor der Realität anzubieten, die zweite ist, den Zuschauer mit der Realität zu konfrontieren, egal, wie schockierend sie sein mag. Es ist offensichtlich, dass in diesen schrecklichen Zeiten die Nachfrage nach beiden Optionen wächst. Natürlich an unterschiedlichen Stellen und aus unterschiedlichen Gründen. Krieg ist ein großzügiger Lieferant für Stoffe für Dokumentartheater, aber er ist auch Kommissar der Träume, die einen alles für eine Weile vergessen lassen. Grundsätzlich gilt, wie Andrey Tarkovsky sagte: „Je mehr Böses es in der Welt gibt, umso mehr Gründe für Kreativität.“

 

LEV DODIN

Open letter to Vladimir Putin:
To say i’m shocked is an understatement. As a child of the second world war, even in my nightmares I could not imagine Russian missiles aimed at Ukrainian towns and villages, driving Kyiv’s citizens into bomb shelters and forcing them to flee their country. As children we played at defending Moscow, Stalingrad, Leningrad and Kyiv. It is impossible even to imagine that today Kyiv is defending itself or surrendering to Russian soldiers and officers. My brain sticks to my skull and it refuses to see, hear or paint such scenes.
The last two years of death across the globe should have reminded all of us, living on either side of any border, how fragile and vulnerable human life is, and how our world collapses in a moment when we lose our loved ones. But they didn’t. These days, both the world of those whose loved ones die, and the world of those who kill someone else‘s loved ones, is collapsing.
Mercy, pity, empathy do not yield to the will of states and politicians. It is impossible to dictate to people when and for whom they should fear, when and whom they should pity. Not a single state has yet learned how to control people’s feelings. The mission of art and culture has always been, especially after all the horrors of the 20th century, to teach people to perceive other people’s pain as their own, to understand that no idea, even the greatest and most beautiful, is worth a human life. Now it can be said: culture and art have once again failed in this mission. I am 77 years old, it is not difficult for me to imagine what will happen next everywhere: a division into right and wrong, a search for enemies within, a search for external enemies, attempts to reconstruct the past, to come to terms with the present and to rewrite the future. All this has already happened in the 20th century.
These days we have lived to see the future. It was during these days that the 21st century began. Together we have allowed this age to dawn. To dawn as it has dawned. The 21st century has turned out to be scarier than the 20th. What is left to do? Pray, repent, hope, plead, demand, protest, yearn? Probably all that we have not done up until now: love another, forgive another as we forgive ourselves, not to believe in Evil and not to mistake Evil for Good.
I am 77 years old and in my life I have lost so many people whom I loved. Today, when rockets of hatred and death are flying over our heads instead of doves of peace, I can only say one thing: stop! Let’s do the impossible: let’s make the 21st century what we dreamed it would be, not what we made it. I’m doing the only thing I can: I’m begging you to stop! Stop.
I’m begging you.

Lev Dodin
© Пресс-служба МДТ - Театра Европы

 

THEODOROS TERZOPOULOS

Regisseur

Wenn wir über die Frage nachdenken „Was soll das Theater jetzt tun?“, sollten wir besser vor allem über die Frage nachdenken, „Welche Menschen brauchen wir heute?“. In einer Zeit, in der sich der Mechanismus des Vergessens durchgesetzt hat. Die Verantwortung der Künstler:innen ist groß, wenn es darum geht, die Erinnerung wachzurufen, die Prinzipien, die sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur, Stadt und Demokratie beziehen, wieder in Erinnerung zu rufen.
Vielleicht sollten wir uns auf die Grundprinzipien des Lebens und der Theaterkunst berufen, von Anfang an die klassischen Texte lesen, vor allem die antike Tragödie, und uns um einen neuen Humanismus bemühen. Die Künstler sollten lernen, von Anfang an ein neues Alphabet für eine Kunst zu buchstabieren, die sich auf die menschliche Existenz konzentriert. Sie sollten nach der großen Idee der Kunst, nach der großen Idee des Lebens streben.
In unserer Zeit ernten wir die Früchte des Populismus und der Pop-Subkultur, die vor allem in der Zeit der Pandemie enorm gewachsen ist.
Solange der unkontrollierte Einsatz von Technik im Theater die natürliche Energie eliminiert, wird das Theater keine Perspektive haben. Die vitale Bio-Energie tendiert dazu, künstlich zu werden. Wenn das passiert – ich hoffe, nicht sehr bald – werden sich unsere Nachkommen in Klone verwandeln – in Maschinen. Ich bin nicht optimistisch, was die Zukunft der Welt angeht.
Vielleicht sollten wir unsere neuen Grundlagen durch die Idee des Neuen Humanismus finden; offensichtlich werden wir diese Grundlagen in unserer unsicheren Zeit nicht entdecken, aber wir werden sie in den primären Prinzipien des Lebens und der Kunst suchen.
Das Theater ist ein Kernbestandteil der Kultur, vielleicht der lebendigste. Es hat das Privileg, zum Spiegel jeder Krise zu werden, und das ermöglicht es ihm, zu manövrieren und sich zu entwickeln. Es gibt keine endgültige Antwort auf Fragen des Lebens, des Menschen, der Natur, sondern wirft immer wieder Fragen auf, die meist unbeantwortet bleiben. Das Krisentheater sollte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen, sondern rastlos und gefährlich sein.
Ich möchte, dass das Theater heute in der Lage ist, die Menschen vor den Übeln zu warnen, die aus der Zukunft kommen.
Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)

 

JON FOSSE

Schriftsteller und Dramatiker

My only answer to your question is: keep on as before as much as possible. The pandemic made theatre impossible, but at least this crazy war doesn’t.

 

PIERRE BOKMA

Schauspieler am Schauspiel Bochum

Wenn es um Fake News geht, sollte man das am besten dem Theater überlassen, denn dort hat der Mensch seit Tausenden Jahren daran gearbeitet, dieses Phänomen zum Wohle der Menschen zu verwenden.

 

YANA ROSS

Regisseurin

Was soll das Theater jetzt tun? Zunächst, was es nicht tun soll: Nicht vorschnell der naiven Reaktion aufzusitzen, dass es produktiv wäre, ukrainische und russische Künstler:innen in einen Raum für Dialog zu bringen – ich höre das von vielen deutschen Theatern und finde es, offen gesagt, naiv, anmaßend und beleidigend für beide Seiten. Ukrainer:innen werden von Russ:innen getötet, lasst uns nicht Menschen in traumatische Situationen außerhalb von Kriegsgebieten bringen, wo sie harte emotionale Arbeit leisten müssen. Hört auf „Menschen zusammenzubringen“, um euch selbst besser zu fühlen. Zweitens sollten wir in Dramaturgiesitzungen nicht die Zeit damit verschwenden, alle möglichen Lesungen/Workshops und andere schwachsinnige Projekte zu diskutieren, die wiederum dem Theater den Anschein geben, etwas Wichtiges zu tun. Das tut es nicht. Gehen Sie ein Risiko ein, machen Sie einen Schritt. Produzieren Sie ein komplettes ukrainisches Stück, arbeiten Sie mit ukrainischen Bühnenbildnern, Komponisten oder Regisseuren zusammen, schaffen Sie Raum für diese Kultur, um sich auszudrücken. Drittens, und vielleicht am wichtigsten: Bilden Sie sich weiter. Die Deutschen neigen dazu, ihre intellektuelle Strenge für überlegen zu halten und ihre Meinung für wichtig zu halten – aber der Mangel an postkolonialer Perspektive auf den Osten ist erstaunlich! Hören Sie auf, Russland als einen Ort der Hochkultur und genialer Künstler zu mystifizieren, lesen Sie die postkoloniale Theorie und wenden Sie sie auf die Expansion und Aggression der Sowjetunion an, und hören Sie auf, mit Russland zu flirten. Stockholm-Syndrom? Ich habe keine andere Erklärung für diese seltsame deutsche Zuneigung.
Was KÖNNEN die Theater tun? Versuchen Sie, das große Ganze zu sehen, ich denke, Theaterstücke mit Kriegsthemen jetzt zu spielen, ist erbärmlich und zu spät. Das war 2011–2014 wichtig! Jetzt ist es an der Zeit, sich mit Karl Kraus und all den Werken aus der unmittelbaren Vor- und Nachkriegszeit zu befassen, mit Horváth und natürlich mit den postapokalyptischen absurden Landschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir müssen sehen, wie wir hierhergekommen sind, wie wir langsam die Dringlichkeit demokratischer Werte und Menschenrechte aufgegeben haben und uns der Übernahme unseres Lebens durch die Konzerne ergeben haben. Für Schriftsteller:innen ist es jetzt die wichtigste Zeit. Sie haben die Gabe und die Mittel, die überwältigende Gleichgültigkeit, die Heuchelei und den Zynismus unserer Zeit in Form und Worte zu fassen. Sie haben die Fähigkeit, etwas zu vermitteln, wofür andere kein Ohr haben. Geben Sie den Schriftstellern Raum, um den Lärm in Harmonie und Konzentration zu destillieren.

 

BURGHART KLAUSSNER

Schauspieler und Regisseur, Hamburg

Es kann auf dem Theater nicht schweigend hingenommen werden, dass Krieg ist.
Auch wenn ohnehin jedes Wort und jede Geste von einem verständigen Publikum auf ihre Kriegskonnotationen hin abgeklopft werden. Zu sehr ist unser gesamtes Jetzt angespannt und starrt auf das Unglaubliche.
Die Verkürzung der Strecke zum Tod als Programm macht Krieg so übermächtig und zugleich unbegreifbar. Wie kann hemmungsloses Morden, bis hin zu Kriegsverbrechen, möglich sein?
Warum dann noch ein Verbot individuellen Mordens? Nur der erste Mord fällt ja schwer.
Erst wenn wir erkennen, dass uns nicht unmittelbar der Blitz als göttliche Strafe trifft, morden wir weiter, sagt man.
Die Unempfindlichen, die Unbegabten vollziehen auch auf dem Theater jeden Mord als Selbstverständlichkeit. Aber wie eindringen in das Herz des Mörders, des Kriegstreibers, wie viel Wunschdenken liegt in der Hoffnung auf Erkenntnis?
Nein, lernen wir gerade unmittelbar, es gibt die Reflexion nicht, es gibt auch die Vorhersagbarkeit nicht, und es gibt das Überleben nur um den Preis des Opfers Anderer. Ist das nun das Erwachen? So wie wir uns vielleicht die Diagnose Krebs vorstellen? Willkommen in der Realität?
Das Leben ein Traum?
Und tatsächlich wirkt die Tatsache des Krieges wie ein Erwachen. Ein Erwachen hin zum Tod, dessen Existenz wir so erfolgreich verdrängt hatten. Aber auch ein Erwachen des schläfrigen Geistes. Alles um uns herum erscheint in einem schärferen Licht.
Warum also nicht die Kunst? Gibt es sie noch? Wie hat sie sich in früheren Kriegen gezeigt? Darf sie uns außer Reflexion auch Zuflucht und Entspannung bieten? Muss sie das nicht, angesichts der Unzumutbarkeit einer lebensbedrohenden Macht?
Und werden wir selbst uns nach dem ersten Schuss, der ersten selbstabgefeuerten Salve und angesichts der von uns Gemordeten gereifter fühlen? Als Verteidiger nicht nur, sondern am Ende gar als Angreifer? Das wären so die Themen für einen Spielplan im Krieg.

 

JAN KLATA

Theaterregisseur

SHAKESPEARE MIT UNS
Es donnert und blitzt. Masken runter, Messer raus. Das ist der Paradigmenwechsel. Willkommen im Birnam Forest. Ich hatte mein Stück „Macbeth“ 600 Meter von den Kremlmauern entfernt, eine surreale Erfahrung, als ich das schottische Stück in Moskau inszenierte. Die Hexen von Pussy Riot verzauberten Putins Stars, die Verschwörung um das tschetschenische Schießpulver hängt immer noch in der Luft, der Geist von Boris Nemzow spaziert durch die Straßen und klopft, klopft, klopft an die Tür. Am Tag des Vaterlandsverteidigers, auch bekannt als Männertag (23.2.), während fröhliche Schauspieler im Dunst der Feierlichkeiten probten, fragte mich Macduff: „Kennen Sie diesen Feiertag nicht? Hast du deinem Land nicht gedient?“ Ich sagte: „Nein“. Peinliches Schweigen im Raum ... gefolgt von brüderlichen slawischen Trostworten: „Mach dir keine Sorgen, das wirst du eines Tages!“. Die Bühne war also schon vor ein paar Jahren bereitet, als Macbeths Yunarmy bereit war, Gayrope zu schlagen. Jeder darf eine Vergangenheit haben, die er nicht erwähnen möchte.
Also, herzliche Grüße vom Kriegsschauplatz! Du kannst weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken. Seien wir ehrlich, man muss für sein Recht zu feiern kämpfen. Es ist besser, auszubrennen als zu verblassen. Mit Euripides, Shakespeare und Puschkin auf unserer Seite sind wir dazu verdammt, diesen Krieg zu gewinnen.

 

ALEKSANDAR DENIĆ

Bühnenbildner, Belgrad

Es ist klar, dass wir gerade dabei sind, in die Kloake zu fallen. Es ist Zeit, nicht nur zu sprechen, sondern auch zu handeln. Was fehlt, ist Solidarität. Solidarität, Solidarität und nochmals Solidarität. Auch von Autoren, Regisseuren und anderen, die Theater machen.

 

JULIA LWOWSKI

Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen

Anfang März, eine Woche nach dem russischen Angriff auf mein Heimatland, fühlte ich ein akutes Bedürfnis, meine bitteren Gedanken und aufgewühlten Gefühle über die Ukraine zu teilen. Ich schrieb einen offenen Brief an Freunde und Kollegen. Seitdem sind bei mir zwei Premieren verstrichen – und die tiefe Ohnmacht, die ich in dem ersten Brief beschrieb, ist fast noch stärker geworden.
Denn als Theatermacherin ist es derzeit unsagbar schwer, Theater zu machen. Jeden Tag gehe ich zur Probe und frage mich nach dem Sinn. Was mache ich da, wenn ich nicht mal auf eine Großkundgebung für den Frieden in der Ukraine gehen kann, weil ich mitten in den Endproben bin? Wie kann das, was wir hier machen, dem entsprechen, was in unserem Heimatland passiert? Meine praktischen Fähigkeiten als Regisseurin könnten doch auf eine ganz andere Art helfen, als im Theater. Transferable skills nennt man es.
Der Krieg hat mich in eine Art geistige Lämung gestürzt, in der ich nur bedingt praktisch helfen kann. Es hat viele Momente gegeben, in denen wir die Vorstellungen absagen wollten, wir nicht mehr imstande waren, weiterzuspielen. Eine Schreckensnachricht überrollt die nächste, man ist gelähmt, weiß nicht, wohin mit sich.
Ich kann nur ins Theater, das ist mein Beruf und meine Berufung. Und ich möchte dahin, weil es mich an das erinnert, was ich an der Kunst liebe: an die Utopie, an den Kampf für eine bessere Welt und an den Mut zum Scheitern.
Ende Mai kuratiere ich an der Oper Wuppertal ein Festival zum Thema Kampfsport. Vereinfacht bedeutet das – kunstvolles Kämpfen, an der Gewalt Freude und Schönheit finden. Wie soll das jetzt gehen?
Fernab von Wuppertal, am anderen Ende Europas, ging am 16. März die Nachricht um die Welt, dass ein zum Luftschutzbunker umgewandeltes Theater in Mariupol, in dem Hunderte Bürger sich verschanzt hatten, von Raketen getroffen wurde. In dieser hässlichen, grausamen Realität, in der wehrlose Menschen gezielt umgebracht werden, ist die Frage, was das Theater und das Publikum in Zeiten des Krieges braucht, undenkbar für mich zu beantworten. Wie soll ich auf diese Frage eine Antwort finden in dieser dunklen „Stunde Null“?
Theater mag politisch sein, aber Theater ist keine Politik. Theater ist Kunst. Es gilt, den Zeitgeist aufzusaugen und uns den Spiegel vorzuhalten. Es wäre absurd, wenn die deutsche Kulturlandschaft weiter Dostojewski, Tschechow und Tschaikowski aufführen würden, als ob nichts wäre. Als eine von der russischen Kultur geprägte Ukrainerin möchte ich damit nicht sagen, dass die großen Künstler gecancelt sein sollten. Bloß nicht. Sie verlieren nicht an Wucht und Weisheit, nur weil in Moskau seit 20 Jahren ein Despot am Hebel sitzt. Diese Schriftsteller und Komponisten würden sich im Grabe umdrehen und so einen Krieg den jetzigen Machthabern nie verzeihen – so wie sie auch damals größtenteils regimekritisch waren, jeder auf seine Art und Weise.
Dennoch: Die Aufarbeitung hätte längst passieren müssen. Umso heftiger platzen die Pestbeulen auf im russisch-ukrainischen Kulturkrieg – wer kommt woher, wer gehört wohin? Ist Gogol ein russischer, Bulgakow ein ukrainischer Schriftsteller? Eigentlich sind solche Debatten im Theater und der Gesellschaft tendenziell gesund. Nur passiert das gerade unter den makabersten Zuständen und jeder will seine „Wahrheit“ proklamieren. So eine Zerrissenheit hindert die Kreativität und lässt alles wund und unmöglich, schwarz-weiß und starr erscheinen. In so einer Zerrissenheit will ich keine Fantasien wagen.
Und doch, wie so oft gibt es Momente der Erhellung, kleine Theaterwunder – ganz unverhofft.

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