Theater der Zeit

In eigener Sache

Theater der Zeit Jahresrückblick 2024

„Ja nichts ist ok“

Wir schauen zurück auf ein Jahr, in dem nichts ok war

von Nathalie Eckstein, Lina Wölfel, Harald Müller, Paul Tischler und Thomas Irmer

Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte

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Wir blicken auf ein ereignisreiches Theaterjahr 2024 zurück. Der viel zu frühe Tod von René Pollesch im Februar hinterließ eine Lücke, die im Herzen der Theaterwelt nicht zu kitten ist. Der Titel seiner letzten Premiere „ja nichts ist ok“ wirkt fast emblematisch für das Jahr. An ihn erinnern die Gespräche mit Thomas Irmer, die im Mai posthum erschienen sind sowie die neueste Arbeit der noch immer leitungslosen Volksbühne, die zeigt, wie mit Polleschs Erbe umgegangen werden kann.

Der Festivalsommer blieb ereignisreich wie eh und je. Von der Biennale in Venedig, wo Ersan Mondtag den Deutschen Pavillon bespielte über Epidaurus, Bitef und Verona, Showcases in Polen (und ein Shakespearefestival) und Albanien erhielten und teilten wir Einblicke in die vielfältigen Theaterszenen Europas und darüber hinaus – wie zum Beispiel das Kyoto Experiment Festival.

Doch sowohl international als auch in Deutschland macht sich seit dem Sommer die Debatte um Sparmaßnahmen breit, deren Ausmaß nicht abzusehen ist, und einen Einschnitt in der Kulturlandschaft, wie wir sie kennen, bedeuten wird.

Beispiele aus Frankreich und Nigeria warnen. Im Dossier versammeln wir alle Texte zum Thema und berichten über aktuelle Entwicklungen. Auch hier ist nichts ok.

So bildete die kulturpolitische Debatte des Jahres vor allem die heraufziehende Finanzierungskrise. Vorher stritten sich die Feuilletons über die Rezeption von Florentina Holzingers Musiktheaterperformace „Sancta“, zunächst am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, dann an der Staatsoper Stuttgart gezeigt wurde, sowie die Antisemitismusvorwürfe gegen das euro-scene Festival in Leipzig und Theater Neumarkt Zürich. Medial skandalisiert wurde „Sancta“, als die Produktion an der Staatsoper Stuttgart im Herbst zu sehen war und nicht nur Menschen im Publikum ohnmächtig wurden, sondern vor allem ultrareligiöse Interessensverbände protestierten und das Team um die österreichische Choreografin Hassnachrichten und sogar Morddrohungen bekam. Das Leipziger Festival euro-scene machte mit der Einladung und dann mit der Ausladung einer Produktion auf sich aufmerksam, deren Regisseurin und Theater zur „kulturellen Intifada“ aufrufen. Ein Antisemtismusskandal, der tief in Fragen kuratorischer Praxis internationaler Festivals führt. Der Fall in Zürich erregte in der Schweizer Kulturszene großes Aufsehen und entwickelte sich zu einer komplexen Kontroverse. Der schweizerisch-israelische Schauspieler Yan Balistoy erhob schwere Vorwürfe gegen die Leitung des Theaters Neumarkt. Er behauptete, dass er aufgrund seiner jüdischen Herkunft diskriminiert und nur in der Hälfte aller Stücke besetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft Zürich stellte fest, dass Balistoy „unter keiner Prämisse” diskriminiert worden sei, wogegen Balistoy Beschwerde beim Obergericht eingereicht hat und die Kontroverse womöglich noch weiter gehen wird.

Um in all den Ereignissen den Überblick zu behalten und bei Bedarf in die Tiefe zu gehen, haben wir knapp 250 aktuelle Onlinekritiken, Festivalberichte sowie aktuelle Kommentare in diesem Jahr auf tdz.de veröffentlicht – hinzu kommen etwa 200 tagesaktuelle Meldungen und über 800 Texte aus 16 Heften und 19 Büchern, die 2024 im Verlag Theater der Zeit erschienen sind und online stehen. Darunter die äußerst lesenswerten Notizen von Judith Malina zu Erwin Piscator, ein spektakulär gestaltetes Buch zur Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg am Schauspielhaus Zürich, ein Sammelband, der Ideen zur Zukunft des Theaters entwickelt sowie eine umfangreiche Forschungsarbeit über die Theaterarbeit in der DDR.

Alle Beiträge verschlagworten wir thematisch und verlinken sie mit PersonenTheaternRegionen und Publikationen, um eine weiterführende Recherche zu ermöglichen.

Im Heft und online konnten wir mit gleich vier neuen Serien an aktuelle Diskurse anknüpfen und in Essays wichtige Fragen zur Zeit stellen: „Schlaglichter“ gab Studierenden und Berufsanfänger:innen die Möglichkeit, eigene Themen und Anliegen – auch in künstlerischer Form – vorzubringen, „Post-Ost“ versammelte im sogenannten Superwahljahr mit den aufgeladenen Wahlen in Ostdeutschland vielseitige Stimmen der Gene­ration Post-Ost, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind. Und anlässlich der US-Wahlen hatten wir einen Amerika-Schwerpunkt im Novemberheft und darüber hinaus Texte zum Theater in den USA in einem Online-Dossier zusammengestellt. Die neue Serie „Zeitenwende“ fragt darüber hinaus nach neuen Dramaturgien in einer durch Krisen und Kriege veränderten Welt – online regte Johnny Hoff in „Jonnys rundem Tisch“ zu Gesprächen über neue Publika und Zugänge zum Theater an.

Um in all diesen komplizierten und aufgeladenen Zeiten auch in die Zukunft blicken zu können, haben wir mit dem Arbeitsbuch „Werk-Stück II“ auf eine Regiegeneration in den Fokus genommen, der eine Zukunft noch bevorsteht und die für ein neues Theater stehen kann. Hoffnungsvoll auf Zukunft macht auch der Kurt-Wolff-Preis, mit dem Theater der Zeit im Frühjahr 2025 auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet werden wird.

Abschließend noch einmal in eigener Sache: Wir bedanken uns bei Verlagsleiter und Geschäftsführer Harald Müller für seine Arbeit, sein Vertrauen, seinen Optimismus und seine Wertschätzung. Er hat 1993 zusammen mit Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Frank Raddatz Theater der Zeit neugegründet und war seitdem bis 2024 Geschäftsführer des Verlags. Das Motto, das er weitergibt: Lieben Sie das Theater!

In diesem Sinnen wünscht Theater der Zeit schöne Feiertage und einen guten Jahresausklang.

Erschienen am 23.12.2024

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